Horsts Bibliothek

Wer könnte besser geeignet sein, über Bücher zu schreiben, als Horst Illmer. Autor des Magazins Phantastisch! Weggefährte meines Vaters und Herausgeber einer Bibliographie über phantastische Literatur.

Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes

von am 2. Juni 2020 Kommentare deaktiviert für Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes

Kir Bulytschow
DER EINHEITLICHE WILLE DES GESAMTEN SOWJETVOLKES.
Übersetzung und Nachwort: Ivo Gloss
Illustrationen: Renate Gloss
Originalzusammenstellung
Berlin, Memoranda, 2020, 300 Seiten
ISBN 978-3-948616-00-7

Das Frühjahrsprogramm von MEMORANDA startete mit den überaus lesenswerten „politischen SF-Satiren“ Kir Bulytschows, für die der Übersetzer und Herausgeber Ivo Gloss nicht nur den genialen Titel DER EINHEITLICHE WILLE DES GESAMTEN SOWJETVOLKES wählte, sondern auch noch ein umfangreiches Nachwort über das Leben und Werk dieses bedeutenden russischen Phantasten geschrieben hat.
Der Inhalt des Buches besteht aus drei kurzen satirischen Vignetten und einem zirka zweihundert Seiten umfassenden Roman. Die Texte entstanden alle in den Jahren 1987 bis 1991, einer Zeit, die nicht nur für Deutschland, sondern vor allem für die Sowjetunion wichtig und revolutionär war. Geprägt von der Glasnost-Politik Gorbatschows entstanden damals literarische Texte (und wurden zum Teil sogar veröffentlicht), für die ihre Autoren kurz vorher noch in Gefängnisse und Lager verschwunden wären.
Stilistisch meisterhaft, inhaltlich eher an Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch oder die Brüder Strugatzki erinnernd als an die uns gewohnte US-amerikanische Science Fiction a la Heinlein, Asimov et al, und von tiefschwarzer Ironie triefend, schreibt Bulytschow Geschichten, wie sie in der Sowjetunion vermutlich tatsächlich hätten passieren können – nur eben mit der nötigen Portion Übertreibung und dem würzenden Schuss wissenschaftlicher Phantastik.
Den EINHEITLICHEN WILLEN DES GESAMTEN SOWJETVOLKES gibt es in zwei Varianten zu kaufen: Im normalen Buchhandel findet man die von Golkonda/MEMORANDA gewohnte Klappenbroschur (die wie immer von benSwerk gestaltet wurde), ausschließlich beim Verlag kann der Sammler eine gebundene Hardcoverausgabe mit Lesebändchen erwerben. Die Illustrationen von Renate Gloss und das „Selbstportrait“ des Autors findet man in beiden Ausgaben.

Horst Illmer

Kir Bulytschow
DER EINHEITLICHE WILLE DES GESAMTEN SOWJETVOLKES.
Übersetzung und Nachwort: Ivo Gloss
Illustrationen: Renate Gloss
Originalzusammenstellung
Berlin, Memoranda, 2020, 300 Seiten
ISBN 978-3-948616-00-7
Das Frühjahrsprogramm von MEMORANDA startete mit den überaus lesenswerten „politischen SF-Satiren“ Kir Bulytschows, für die der Übersetzer und Herausgeber Ivo Gloss nicht nur den genialen Titel DER EINHEITLICHE WILLE DES GESAMTEN SOWJETVOLKES wählte, sondern auch noch ein umfangreiches Nachwort über das Leben und

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Die Haarteppichknüpfer

von am 26. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Die Haarteppichknüpfer

Andreas Eschbach
DIE HAARTEPPICHKNÜPFER. Roman.
Lübbe
Oktober 2012 – 318 Seiten – € 11,00
ISBN: 9783404206971

Andreas Eschbach beginnt diesen Roman mit einer unglaublich direkten, dynamischen und (notwendigerweise) auch sehr brutalen Szene. Auf einem ziemlich unwirtlichen Wüstenplaneten wird einem alternden Haarteppichknüpfer ein zweiter Sohn geboren. Die Bräuche verlangen dessen Tod, da nach dem ersten, erbberechtigten Sohn, nur noch Mädchen gewollt sind. Da der ältere Sohn jedoch unkonventionelle Ideen hat und lieber Bücher liest, als das Teppichknüpfen zu erlernen und sich den traditionellen Abläufen zu fügen, greift auch der Vater zu unüblichen Mitteln – und zum Schwert.
Schon auf diesen ersten Seiten entsteht eine komplette Welt vor dem inneren Auge des Lesers, mustergültig ausgearbeitet, nach einem Entwurf, der eines Teppichknüpfmeisters würdig wäre. Es gibt einen allgemein verehrten und gefürchteten Gott-Kaiser; das Gilden- und Kastenwesen bestimmt die unveränderbar erscheinenden Hierarchien und die patriarchalen Strukturen, die seit Jahrzehntausenden unverändert nur ein einziges Ziel haben: Haarteppiche zu fertigen. Diese, aus den Haaren der weiblichen Haushaltsmitglieder gewonnen, werden von den geachteten und reichen Knüpfern verfertigt, die dafür ein ganzes Leben brauchen. Am Ende wird der fertige Teppich zum Markt getragen, an reisende Händler verkauft und der Erlös an den Sohn weitergegeben, der damit wieder eine Familie gründen und einen neuen Teppich beginnen kann. Die Händler bringen die Teppiche zum Raumhafen, wo sie die Schiffe des Kaisers aufnehmen und zum Palast des Herrschers bringen.
Diesen zu schmücken sind die Haarteppiche da und niemand wagt es, daran zu zweifeln, bis plötzlich Gerüchte laut werden, von einer Rebellion und, noch ketzerischer, vom Abdanken des Kaisers. Eines Tages taucht sogar ein Fremder auf und behauptet, ein Rebell zu sein – und der Kaiser sei tot!
Als Rahmen dient diesem farbigen Weltenbild die Geschichte vom Aufstieg des Galaktischen Reiches und seines kaiserlichen Herrschers – und vom Ende des Alten und Beginn des Neuen. Es ist eine Geschichte, die zu rühren weiß, die erzählt von den Beharrungskräften der Tradition, von den Zweifeln der Neuerer, von den Überraschungen die ein Universum bereithält für seine Eroberer und von den Lösungen für die allgegenwärtigen Fragen, die in den Archiven ruhen und die man nur zu finden wissen muss.
Gerade dieses Werk zeigt Eschbach als einen Erzähler, der originell und stilistisch großartig seine Fäden webt. Die Geschichte ist spannend bis zum Schluss, zeigt keine Schwächen und schafft es, dem Leser immer wieder den Atem zu rauben.
Am Ende freut man sich auf viele weitere Geschichten, die das kaiserliche Archiv noch für uns bereithält.

Horst Illmer

Andreas Eschbach
DIE HAARTEPPICHKNÜPFER. Roman.
Lübbe
Oktober 2012 – 318 Seiten – € 11,00
ISBN: 9783404206971
Andreas Eschbach beginnt diesen Roman mit einer unglaublich direkten, dynamischen und (notwendigerweise) auch sehr brutalen Szene. Auf einem ziemlich unwirtlichen Wüstenplaneten wird einem alternden Haarteppichknüpfer ein zweiter Sohn geboren. Die Bräuche verlangen dessen Tod, da nach dem ersten, erbberechtigten Sohn, nur noch Mädchen gewollt sind. Da der ältere Sohn

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Wahn

von am 21. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Wahn

Stephen King
WAHN. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
(Duma Key / 2008)
München, Heyne
Juli 2009 – 912 Seiten – € 10,99
ISBN: 9783453433434

Als WAHN 2008 erstmals erschien, war es gefühlt der hundertste (tatsächlich wohl Nummer 40) Stephen-King-Roman, der wieder einmal nur knapp die 1000-Seiten-Grenze verfehlte. Verblüffend war dabei, dass es mich immer noch reizte, diesen Monumentalwälzer aufzuschlagen. Und dass es Mister King dann erneut gelang, meine Skepsis zu überlisten und mich erst nach der letzten Seite das Buch wieder weglegen zu lassen.
Teufel auch – das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.
So etwas Ähnliches fühlt auch Edgar Freemantle beim Einzug in das „Big Pink“, seinem neuen Domizil auf der vor Floridas Westküste gelegenen Insel Duma Key. Fast schlagartig fühlt er sich besser – und dabei hat er allen Grund, sich schlecht zu fühlen.
Bei einem Unfall auf einer seiner Baustellen wurde ihm der rechte Arm abgerissen und sein Schädel eingedrückt. Wie durch ein Wunder überlebte er und kam sogar wieder auf die Beine. Allerdings zuerst nur sein invalider Körper, vor allem sein Gedächtnis und die rasenden Kopfschmerzen machen ihm erheblich mehr Probleme. Da Edgar ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, kann er sich seine Krankheit wenigstens leisten, was ihn aber nicht vor Selbstmordgedanken schützt. Als letzten Ausweg aus dieser Misere empfiehlt ihm sein Therapeut einen Ortswechsel – aus dem kalt-unfreundlichen Minnesota ins warme Florida – und ein Hobby, das ihn auf andere Gedanken bringt.
Als Edgar auf Duma Key eintrifft ist ihm sofort klar, dass er hier nur eines will: malen!
Ein bisher verborgenes Talent Edgars entwickelt sich mit rasender Geschwindigkeit und bald schon reden seine wenigen Freunde und Vertrauten ihm zu, die Bilder – die ihre Betrachter gleichzeitig fesseln und verunsichern – einer Galerie anzubieten. Begeistert stimmt man dort zu, Edgars Bilder faszinieren selbst diese Profis.
Während Edgar Bild auf Bild malt, geht es ihm immer besser, sein Bedarf an Schmerzmitteln reduziert sich auf ein paar Aspirin am Tag, und er findet bei seinen Nachbarn, der alten Miss Eastlake und ihrem Betreuer Jerome Wireman, mehr als nur freundliche Aufnahme: Jerome wird mit der Zeit ein echter Freund für ihn – und mit Elizabeth teilt er bald ein dunkles Geheimnis.
Denn auf Duma Key existiert etwas, dass sich in Edgars Leben und Malen einmischt (wie es sich vor vielen Jahren in das Leben und Malen der damals noch kindlichen Elizabeth Eastlake drängte). Diese unbestimmbare, unsichtbare Kraft beeinflusst immer mehr die Qualität und die Motive von Edgars Bildern. Obwohl es ihm zunächst gelingt, seine neu gewonnenen Fähigkeiten auch positiv einzusetzen, muss Edgar Freemantle erkennen, dass auf Duma Key eine finstere, bösartige Kraft beheimatet ist – und zur Eröffnung seiner ersten Bilderausstellung erwartet Edgar seine Familie und seine alten Freunde in Florida …
In einer fast Barock zu nennenden Detailfülle schwelgt King in den Beschreibungen von Licht, Geräuschen, Aromen und Gerüchen, erzeugt „atmosphärische Spannungen“ (und damit ist auch die Beschreibung des Wetters gemeint) und bringt die Stimmungen und Gemütsverfassungen seiner Protagonisten so lebhaft und mitreißend auf den inneren Bildschirm, dass man diesen Roman mit allen Sinnen „mit erleidet“.
Wie häufig bei King gibt es auch in WAHN zahlreiche Reflektionen über die Kunst (diesmal verstärkt über das Malen und Zeichnen) und darüber, wie sie geschaffen, wie sie produziert wird. King nimmt seine Leser dabei mit in einen sehr persönlichen, emotional aufgeladenen „Raum“ und macht sich mit seiner Offenheit auch verletzlich. Sein Vertrauen, dass dieses Bloßlegen einer verwundbaren Seite – in WAHN erfährt man sehr viel über Kings schrecklichen Autounfall und die Zeit seiner Rekonvaleszenz – nicht missbraucht wird, gehört wohl mit zu den wichtigsten Gründen für die Faszination, die Kings Werk ausstrahlt.
Wenn Sie in diesem Frühjahr noch etwas Tröstliches lesen wollen, dann sollten Sie zu WAHN von Stephen King greifen. So viel Schönheit und Wahrheit sind auch bei ihm nur selten zu finden.

Horst Illmer

Stephen King
WAHN. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
(Duma Key / 2008)
München, Heyne
Juli 2009 – 912 Seiten – € 10,99
ISBN: 9783453433434
Als WAHN 2008 erstmals erschien, war es gefühlt der hundertste (tatsächlich wohl Nummer 40) Stephen-King-Roman, der wieder einmal nur knapp die 1000-Seiten-Grenze verfehlte. Verblüffend war dabei, dass es mich immer noch reizte, diesen Monumentalwälzer aufzuschlagen. Und dass es Mister King dann

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Ein Vogel ist er nicht

von am 19. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Ein Vogel ist er nicht

Philip Krömer
EIN VOGEL IST ER NICHT. Neun Umschreibungen.
Mit Bildern von Florian L. Arnold
Ohne Ort (Europa), Topalian & Milani, 2019, 224 Seiten
ISBN 978-3-946423-09-6

Tja, wie soll man das nun nennen?
Kurzgeschichten?
Historische Erzählungen?
Alternative Geschichtsschreibung?
Oder einfach nur frech?
Auf jeden Fall nennt der Autor Philip Krömer seine in EIN VOGEL IST ER NICHT versammelten Texte schlicht „Umschreibungen“ – vieldeutiger ging‘s wohl nicht.
Und dieses Uneindeutige ist bei Krömer Programm.
Geschickt nutzt er das „fundierte Halbwissen“ seiner Leser und schreibt humorvolle Anekdoten über bekannte Persönlichkeiten wie Kaiserin Elisabeth (Sisi), Ludwig II., Napoleon Bonaparte, E. A. Poe oder H. C. Artmann, aber auch über Schreckensmänner wie den Serienmörder Haarmann, die römischen Kaiser Nero und Julius Cäsar, den Heiligen Georg und den mythischen Ikarus.
Allen diesen (teils sehr kurzen, teils durchaus veritablen) Geschichten ist jedoch ein gewisses Irritationspotenzial eingebaut: so irrt etwa der amerikanische Dichter Edgar Allan Poe im Jahr 1857 (acht Jahre nach seinem vorgetäuschten Tod) in Eskimokluft durch Nordkanada – immer noch auf der Suche nach Beweisen für den Wahrheitsgehalt seines „realistischen“ Berichts über die Erlebnisse eines gewissen Arthur Gordon Pym …
Der 1988 in Amberg geborene, inzwischen in Erlangen heimische Krömer hat unter anderem auch Buchwissenschaften studiert und dieses Wissen in die Gestaltung von EIN VOGEL IST ER NICHT eingebracht. Entstanden ist ein herausragend schönes Buch, durchgängig illustriert mit in aufwändiger Mischtechnik entstandenen Grafiken von Florian L. Arnold und zudem schrift- und satztechnisch einfach ein Genuss.

Horst Illmer

Philip Krömer
EIN VOGEL IST ER NICHT. Neun Umschreibungen.
Mit Bildern von Florian L. Arnold
Ohne Ort (Europa), Topalian & Milani, 2019, 224 Seiten
ISBN 978-3-946423-09-6
Tja, wie soll man das nun nennen?
Kurzgeschichten?
Historische Erzählungen?
Alternative Geschichtsschreibung?
Oder einfach nur frech?
Auf jeden Fall nennt der Autor Philip Krömer seine in EIN VOGEL IST ER NICHT versammelten Texte schlicht „Umschreibungen“ – vieldeutiger ging‘s wohl nicht.
Und dieses Uneindeutige ist bei

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Parallel Lines – 5

von am 15. Mai 2020 3 Kommentare

Von Horst Illmer

Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Des Bosch-Hämorrhoidensalbentuchs“ (David Foster Wallace)

Eyesight for the Blind / The Persistence of Vision (The Who / John Varley)

Music is the doctor
Makes you feel like you want to
Listen to the doctor
Just like you ought to
Music is the doctor of my soul

The Doobie Brothers

Doctor Doctor, gimme the news
I got a bad case of lovin' you
No pill’s gonna cure my ill
I got a bad case of lovin' you

Robert Palmer

Ihr könnt mir gratulieren. Ich habe das „missing link“ gefunden!

Auf der Suche nach einer diesmal mehr positiven und optimistischen „Parallele“ bin ich, mehr durch Zufall und Glück als durch echtes „Wissen“, auf etwas in der Science Fiction einmaliges und staunenswertes gestoßen – auf James White und seine Serie „Orbit Hospital“.

Im englischen Original ist die von 1957 bis 1999 von White ganz alleine geschriebene Serie als „Sector General“ bekannt, nach dem Titel der ersten Geschichte, die damals im englischen Magazin New Worlds erschien.
Erzählt werden darin die Abenteuer einer intergalaktischen Mediziner-Crew, die in einem riesigen Krankenhaus Dienst tut, das am Rande des Universums um einen Planeten kreist. Gebaut und in Betrieb gehalten wird das Orbit Hospital von der Gemeinschaft der galaktischen Völker, deren „Monitoren“-Truppe auch für die Sicherheit der Station zuständig ist.

Der im Nordirischen Belfast geborene James White (1928–1999) war zeitlebens „nur“ Nebenerwerbs-Schriftsteller. Er zog es vor, seinen Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit (Werbung) zu verdienen und seinem Hobby als SF-Autor (trotz eines gewissen Erfolgs) lieber nur nebenbei zu frönen. Ausschlaggebend dafür dürfte auch gewesen sein, dass White überzeugter Pazifist war und dies auch in seinen Romanen und Erzählungen zum Ausdruck bringen wollte. Das machte „Sector General“ laut dem Genre-Historiker Brian Stableford zwar zur ersten rein pazifistischen Weltraumsaga („the first explicitly pacifist space opera series“) – die aber niemals ein echter Bestseller wurde, auf dem man eine sichere Karriere hätte aufbauen können.

Trotzdem erlangte White einigen Ruhm mit den in insgesamt zwölf Bänden gesammelten Kurzgeschichten und Romanen um den Chefarzt Dr. Peter Conway, die Krankenschwestern Murchison und Naydrad, den empathischen (wenngleich spinnenähnlichen) Dr. Prilicla und ihrer gemeinsamen „Nemesis“, dem Chefpsychologen Dr. O’Mara, die immer wieder aufs Neue vor der Herausforderung stehen, exotische Aliens von noch exotischeren Krankheiten zu heilen.
Obwohl die Weltraumklinik riesig ist und fast alle Umweltbedingungen nachstellen kann, sind die Behandlungen oftmals schwierig, da die Mediziner sich erst einmal in ihre Patienten (und deren Metabolismus) „hineinversetzen“ müssen. Das erfordert einen fast detektivischen Spürsinn, sodass die einzelnen Episoden manchmal wie eine gelungene Verbindung zwischen „Dr. House“, Sherlock Holmes und „Babylon 5“ wirken.
Im Lauf der Jahre entwickelte sich die Spannung der Handlung auch durch diverse Konflikte mit den Soldaten des Monitoren-Corps, mit feindlichen Angriffen auf das Orbit Hospital oder durch Außeneinsätze, wenn z. B. einmal der Patient sogar für dieses Krankenhaus zu groß war. White, der gerne selbst Arzt geworden wäre, schrieb einen Großteil der Abenteuer in Form von Kurzgeschichten in den 1960er und 1970er Jahren und sah die Serie nach sechs Sammelbänden eigentlich schon als abgeschlossen an. Allerdings konnten ihn freundliche Bitten seiner Verleger dann doch dazu bringen, noch sechs Romane (davon alleine fünf in den Jahren zwischen 1991 und 1999) folgen zu lassen.
In Deutschland gab es seit 1965 immer wieder (zumeist nur kurzlebige) Versuche, die „Weltraum-Mediziner“ auf Station zu schicken. Nach Moewig, Pabel und Ullstein nahm dann Wolfgang Jeschke vom Heyne Verlag die Sache in die Hand und veröffentlichte zwischen 1993 und 1997 die bis dahin erschienenen Bände Eins bis Neun in der (teilweisen Neu-)Übersetzung von Kalla Wefel. In White Todesjahr 1999 folgte dann noch DIE LETZTE DIAGNOSE (die Bände 11 und 12 kann man bisher nur auf Englisch lesen). Als Besonderheit der Deutschen Ausgabe ist Anzumerken, dass die zehn Titelbilder, gemalt von Boros Zoltan und Szikszai Gabor, aneinandergelegt ein großartiges Panoramabild ergeben.

Zwar ist auch im Weltraum und im „Orbit Hospital“ nicht immer alles LOVE & PEACE & HARMONY wie es sich die Jungs von High South auf ihrer aktuellen CD ausmalen, aber James White kommt diesem Ideal so nahe wie niemand sonst in der gesamten Science-Fiction-Literatur.

Song: Carole King – „You’ve Got A Friend“ (1971, vom Album TAPESTRY)

Von Horst Illmer
Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Des Bosch-Hämorrhoidensalbentuchs“ (David Foster Wallace)
Eyesight for the Blind / The Persistence of Vision (The Who / John Varley)
Music is the doctor
Makes you feel like you want to
Listen to the doctor
Just like you ought to
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The Doobie Brothers
Doctor Doctor, gimme the news
I got a bad case of lovin'

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Aufbruch in den Abgrund

von am 11. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Aufbruch in den Abgrund

Hans Frey
AUFBRUCH IN DEN ABGRUND.
Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918–1945.
Berlin, Memoranda, 2020, 530 Seiten
ISBN 978-3-948616-02-1, / Klappenbroschur

Der von Hans Frey 2018 in FORTSCHRITT UND FIASKO begonnene Versuch einer Literaturgeschichte der deutschen Science Fiction findet im Frühjahr 2020 seine Fortsetzung in AUFBRUCH IN DEN ABGRUND – DEUTSCHE SCIENCE FICTION ZWISCHEN DEMOKRATIE UND DIKTATUR. Reichten Frey für die ersten einhundert Jahre von 1810 bis zum 1. Weltkrieg noch 300 Seiten, so füllt die Untersuchung der zwischen 1918 und 1945 („Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur“) erschienenen Zukunftsliteratur diesmal über 500 Seiten.
Akribisch und detailfreudig beschreibt der Sammler und Literaturkenner Frey, der als Germanist, Lehrer und Politiker die besten Voraussetzungen dafür mitbringt, die im deutschsprachigen Raum veröffentlichten Romane und Kurzgeschichtenbände, deren Inhalt zwar noch als „phantastische Literatur“, „technischer Zukunftsroman“ oder „utopisch“ bezeichnet wurde, aber letztlich dem entsprach, was zeitgleich in den USA als „Science Fiction“ seinen Siegeszug um die Welt begann. Dabei folgt er zwar grundsätzlich dem „Zeitstrang“, unterteilt jedoch geschickt nach Themenkreisen, einzelnen Autoren, technischen und (vor allem) politischen Zäsuren und schafft es so, nicht nur den vielen hundert Büchern gerecht zu werden, sondern auch noch den historischen Hintergrund seines Zeitgemäldes „scharf zu stellen“.
Was von Nessun Saprà in dessen LEXIKON DER DEUTSCHEN SCIENCE FICTION & FANTASY 1919–1932 (Utopica, 2007) begonnen wurde (aber leider Fragment blieb), nimmt Frey als Grundlage, geht in seinem AUFBRUCH IN DEN ABGRUND aber nicht nur einen Schritt weiter, sondern erfüllt das Ganze mit neuem Leben.
Dieses Buch zu lesen macht nicht nur schlauer – es macht auch noch Spaß!

Horst Illmer

Hans Frey
AUFBRUCH IN DEN ABGRUND.
Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918–1945.
Berlin, Memoranda, 2020, 530 Seiten
ISBN 978-3-948616-02-1, / Klappenbroschur
Der von Hans Frey 2018 in FORTSCHRITT UND FIASKO begonnene Versuch einer Literaturgeschichte der deutschen Science Fiction findet im Frühjahr 2020 seine Fortsetzung in AUFBRUCH IN DEN ABGRUND – DEUTSCHE SCIENCE FICTION ZWISCHEN DEMOKRATIE UND

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Love

von am 10. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Love

Stephen King
LOVE. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
(Originatitel: Lisey’s Story / 2006)
München, Heyne
April 2008 – 752 Seiten – € 10,99
ISBN: 9783453432932

Scott Landon und Lisa Debusher (genannt Lisey) waren lange Jahre verheiratet, bis Scott vor zwei Jahren viel zu früh an einer unbekannten Krankheit gestorben ist. Seither lebt Lisey in ihrem großen Haus allein und versucht über den Verlust hinwegzukommen.
Da Scott ein erfolgreicher Romanautor war, hat sie keinerlei finanzielle Probleme. Sie kämpft vielmehr damit, dass ihre Liebe zu Scott nicht nachlassen will und sein Fehlen sie fast verzweifeln lässt. Da wir es hier jedoch mit einem Roman von Stephen King zu tun haben, werden aus den emotionalen Wunden recht schnell ganz reale Klingen, Scherben und andere Schneidewerkzeuge, die dazu benutzt werden, Menschen zu verletzen.
Lisey wird plötzlich durch mehrere Katastrophen aus ihrem tranceähnlichen Trauerzustand geholt. Zum einen beginnt ihre mental verstörte Schwester Amanda nach Jahren wieder damit, sich selbst zu verletzen. Noch bevor Lisey mit ihren anderen Schwestern eine Entscheidung über Amandas weiteres Schicksal treffen kann, erreicht sie selbst der merkwürdige Drohanruf eines Mannes, der sich Zack McCool nennt und es offenbar auf Scotts unveröffentlichte Manuskripte abgesehen hat. Und in ihr selbst beginnen lange Zeit verdrängte Erinnerungen sich ihren Weg zurück ins Bewusstsein zu bahnen.
Scott und Lisa stammten beide aus Familien, deren Zusammenleben teilweise sehr von dem abwich, was man als normal bezeichnen würde. Im Laufe ihrer Beziehung sagten sie sich all diese intimen Dinge, die man eben nur seinem Partner erzählt, wobei beide offenbar doch ein paar Geheimnisse für sich behielten.
Doch die Schatten der Vergangenheit beginnen damit, sich in der Gegenwart auszubreiten: Amanda redet plötzlich in Zungen und verfällt dann in einen katatonischen Zustand, der Dozent, der hinter Scotts Papieren her war, verliert die Kontrolle über seinen „Helfer“ Zack McCool, in Liseys Briefkasten liegt eine bestialisch geschlachtete Katze – und beim Aufräumen entdeckt Lisa ein Fragment gebliebenes Manuskript ihres Gatten, mit dem er sie auf einen „Blut-Bool“ schickt. Mit diesem Begriff bezeichnete Scott ihr gegenüber die grausamen Rätselspiele seiner Kindheit. Ohne seine körperliche Anwesenheit, muss sie sich nun allein aufmachen und versuchen, das Rätsel zu lösen, bevor das Unheil erneut zuschlägt.
King gelingt es einmal mehr, mit Worten einen Sog zu erzeugen, der den Leser gefangen nimmt, seine Augen auf die Seiten des Buches bannt und ihn dazu bringt, immer weiter lesen zu wollen. Obwohl die beschriebenen Szenen manchmal fast unerträglich scheinen, gelingt es nicht, sie zu überblättern (ich hab’s durchaus versucht).
Stephen King schreibt in LOVE über die Probleme, die eine Ehe für die Beteiligten mit sich bringt, über die Folgen, die eine schlechte Kindheit für die Menschen haben kann, die sie durchleiden müssen, über die Schwierigkeiten, gleichzeitig Schriftsteller zu sein und mit normalen Menschen auskommen zu müssen – und über den unerschöpflichen und unvorstellbar schönen „Pool der Worte“, dem wir alle unsere Sprache und vor allem unsere Literatur verdanken.
LOVE ist ein Roman voller Grauen und Liebe, geschrieben von einem meisterhaften Erzähler, der auch nach über fünfzig Büchern immer noch alles für sein Publikum gibt – auch sich selbst. Ein echter King!

Horst Illmer

Stephen King
LOVE. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
(Originatitel: Lisey’s Story / 2006)
München, Heyne
April 2008 – 752 Seiten – € 10,99
ISBN: 9783453432932
Scott Landon und Lisa Debusher (genannt Lisey) waren lange Jahre verheiratet, bis Scott vor zwei Jahren viel zu früh an einer unbekannten Krankheit gestorben ist. Seither lebt Lisey in ihrem großen Haus allein und versucht über den Verlust hinwegzukommen.
Da Scott

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Sunset

von am 7. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Sunset

Stephen King
SUNSET. Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner, Karl-Heinz Ebnet, Sabine Lohmann, Friedrich Mader und Hannes Riffel
(Just After Sunset / 2008)
Heyne Taschenbuch
Juli 2010 – 479 Seiten – € 9,99
ISBN: 9783453434677

Viele amerikanische Bestsellerautoren schreiben keine Kurzgeschichten. Ich bezweifele, dass das eine Geldfrage ist; Bestsellerautoren brauchen über diesen Aspekt nicht nachzudenken. Vielleicht setzt eine Art kreative Klaustrophobie ein, sobald die Welt eines hauptberuflichen Schriftstellers auf sagen wir unter 280 Seiten schrumpft. Vielleicht ist es auch nur das Talent zur Miniaturisierung, das irgendwie verlorengeht. Bei vielem im Leben mag es sich wie mit dem Fahrradfahren verhalten, aber das Schreiben von Kurzgeschichten gehört nicht dazu. Man kann vergessen, wie man es macht.
Ungeachtet der vielen Romane die Stephen King im Laufe seiner Tätigkeit als Schriftsteller vorgelegt hat, gehört er – im kollektiven Gedächtnis seiner Leserschaft zumindest – doch vom ersten Tag an zu den herausragenden Verfassern von Kurzgeschichten. Einige davon (und das Spannende dabei ist, dass es bei jedem Leser andere sind) wachsen in der Erinnerung ständig weiter, die besten schaffen es, uns über Jahre und Jahrzehnte zu beschäftigen.
Stephen King gehört also eindeutig zu den Autoren, die nicht vergessen haben, wie man Kurzgeschichten schreibt. Oder?
Nun, eigentlich hätte ich den ersten Absatz dieser Rezension in Anführungszeichen setzen müssen, denn er stammt aus dem Vorwort von Kings Geschichtensammlung SUNSET. Er schildert dann weiter, wie er in den achtziger und neunziger Jahren immer weniger Stories schrieb – und wie er es fast verlernte. Durch einen glücklichen Zufall wurde er jedoch daran erinnert, wie Stolz er einmal darauf war, Kurzgeschichten nur so aus dem Ärmel schütteln zu können. Er besann sich seiner Fähigkeiten – und das Ergebnis liegt in Form der dreizehn Geschichten in SUNSET vor uns.
Die Geschichten beschäftigen sich, wie bei King üblich, überwiegend mit schaurigen, gruseligen und manchmal phantastischen Geschehnissen, die in das Leben ganz normaler Menschen hereinbrechen und sie verändert zurücklassen. Wie zum Beispiel in „Hinterlassenschaften“, Kings ganz persönlicher Aufarbeitung des Attentats vom 11. September 2001, wo in der Wohnung von Scott Staley, einem Überlebenden des Twin-Tower-Einsturzes, plötzlich Gegenstände seiner verstorbenen Kollegen materialisieren. Die Versuche, diese „Andenken“ wieder loszuwerden, erweisen sich als ebenso schwierig, wie mit den Erinnerungen an diesen Tag klarzukommen. Doch schließlich eröffnen die gedankenlos hingeworfenen Worte einer Nachbarin einen Ausweg für Scott …
Wie groß Kings Meisterschaft in der kleinen Form der Kurzgeschichte ist, zeigt sich in „Das Pfefferkuchen-Mädchen“, der für mich besten Geschichte dieser Sammlung. Für Emily beginnt nach dem plötzlichen Kindstod ihrer Tochter eine psychische Leidenszeit, die sie erst zu bewältigen beginnt, als sie mit dem Langsteckenlaufen anfängt. Was für sie ganz allmählich zur Befreiung wird, erscheint ihrem Gatten als manisch – was letztlich zur Trennung führt. Emily zieht sich auf eine nur spärlich besiedelte Insel vor der Küste Floridas zurück und dreht dort am Strand ihre Runden. Als sie jedoch eines Tages ein Büschel blutgetränkter Haare vor dem Tor des Nachbarhauses findet, treibt sie ihre Neugier direkt in die Arme eines irrsinnigen Killers. Beim Lesen dieser Geschichte musste ich mehrmals innehalten um Luft zu holen, da es mir wortwörtlich „den Atem verschlagen“ hat.
Auch in den anderen Erzählungen beweist Stephen King sein Können. In den nachgestellten „Anmerkungen“ beschreibt er, wie es zu den einzelnen Texten kam, wann und wo sie entstanden und welche Bedeutung sie für ihn und sein Schreiben haben.
Zum Schluss übergebe ich noch einmal an Stephen King (diesmal mit Anführungszeichen): „Es hat mir Spaß gemacht, die Geschichten zu schreiben. Und solange ich weiß, wie man’s macht, werde ich weiterschreiben. Würde ich ohne Sie weiterschreiben? Ja, das täte ich wohl. Weil es mich glücklich macht. Aber mit Ihnen, treuer Leser, ist es mir lieber.“
Wir sind da, Mr. King, wir sind ja da!

Horst Illmer

Stephen King
SUNSET. Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner, Karl-Heinz Ebnet, Sabine Lohmann, Friedrich Mader und Hannes Riffel
(Just After Sunset / 2008)
Heyne Taschenbuch
Juli 2010 – 479 Seiten – € 9,99
ISBN: 9783453434677
Viele amerikanische Bestsellerautoren schreiben keine Kurzgeschichten. Ich bezweifele, dass das eine Geldfrage ist; Bestsellerautoren brauchen über diesen Aspekt nicht nachzudenken. Vielleicht setzt eine Art kreative Klaustrophobie ein, sobald die Welt eines

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Technophoria

von am 5. Mai 2020 Kommentare deaktiviert für Technophoria

Niklas Maak
TECHNOPHORIA. Roman.
München, Hanser, 2020, 280 Seiten
ISBN 978-3-446-26403-8

Architektur und Science Fiction?
Es ist eine doch eher seltene Paarung, die uns der FAZ-Redakteur und Architekturhistoriker Niklas Maak in seinem Roman TECHNOPHORIA präsentiert. Sein Protagonist Valdemar Turek gehört zur Führungsebene einer Firma, die weltweit sogenannte „Smart Cities“ aus dem Boden stampft. Ihr neuestes Vorzeige-Projekt ist die Verwirklichung eines schon vor über hundert Jahren erdachten Plans: Eine riesige Senke in der lybisch-ägyptischen Wüste mit Wasser aus dem Mittelmeer zu fluten!
Wer schon einmal mittels einer App versucht hat, ein sogenanntes „Smart Home“ in Schach zu halten, kann sich in etwa vorstellen, wie „smart“ ganze Städte funktionieren. Und wenn ein Plan in hundert Jahren mehrmals als undurchführbar aufgegeben wurde, dann wird er im Laufe der nächsten Jahre bestimmt „absolut perfekt“ funktionieren.
Niklas Maak traut sich was. Er beschreibt in TECHNOPHORIA glaubwürdig eine mögliche Zukunft aus der Sicht eines jener Menschen, die sie für uns entwerfen und bauen. Dabei versucht Maak einigermaßen objektiv, die positiven wie negativen Möglichkeiten solcher Bestrebungen zu erfassen und darzustellen. Sein Zug in die Zukunft gleicht manchmal einer aufwändig konstruierten Achterbahn, dann wieder mehr einer hypermodernen Geisterbahn, für Unterhaltung aber ist immer gesorgt.
Und das Buch-Design (innen mit vielen Bildern, außen sehr bunt, dazu ein Schutzumschlag in Form eines Kuverts) passt auch!

Horst Illmer

Niklas Maak
TECHNOPHORIA. Roman.
München, Hanser, 2020, 280 Seiten
ISBN 978-3-446-26403-8

Architektur und Science Fiction?
Es ist eine doch eher seltene Paarung, die uns der FAZ-Redakteur und Architekturhistoriker Niklas Maak in seinem Roman TECHNOPHORIA präsentiert. Sein Protagonist Valdemar Turek gehört zur Führungsebene einer Firma, die weltweit sogenannte „Smart Cities“ aus dem Boden stampft. Ihr neuestes Vorzeige-Projekt ist die Verwirklichung eines schon vor über hundert Jahren

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Parallel Lines – 4

von am 30. April 2020 1 Kommentar

Von Horst Illmer

Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr des Yushityu 2027 Mimetic-Resolution-Cartridge-View-Motherboard-Easy-To-Install-Upgrades für Infernatron/InterLace TP-Systeme für Zuhause, Büro oder Unterwegs (sic)“ (David Foster Wallace)

Sparks (The Who) / This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us (Sparks)

I get knocked down
But I get up again
You’re never going to keep me down
Pissing the night away
Chumbawamba – “Tubthumping”
(1998, vom Album TUBTHUMBER)

In dieser Session gibt es zuerst mal die „Farbenpest-Hitparade im Schnelldurchlauf“ und danach ein paar echte Katastrophen-„Oldies“ – und einen Lichtblick als „Rauswerfer“.

Nachdem im 1. Weltkrieg erstmals Giftgas in bis dahin unvorstellbaren Mengen zur größtmöglichen Schadenserzeugung eingesetzt wurde, erfuhren Chemie und Biologie eine „Aufwertung“ als literarische Themen, deren man sich nun auch in der noch jungen Science Fiction intensiver zuwandte. Aus der Flut dystopischer und apokalyptischer Erzählungen habe ich im Folgenden eine kleine „Hitparade“ der farbenfreudigsten Pandemietitel zusammengetragen.

Beginnen wollen wir mit der wohlbekannten „gelben Gefahr“, die in den 1920er Jahren jedoch noch nicht (oder nur wenig) mit China in Verbindung gebracht wurde, sondern vor allem mit dem damals aggressiv expandierenden Kaiserreich Japan. Darauf spielt auch der 1872 in Wien geborene Ludwig Anton in seinem 1922 veröffentlichten Roman DIE JAPANISCHE PEST an. Der studierte Mediziner und praktizierende Arzt schrieb Krimis, Theaterstücke und auch einige Zukunftsromane. In der JAPANISCHEN PEST soll ein deutscher Bakteriologe der japanischen Armee bei der Entwicklung einer biologischen Waffe helfen, die gegen die USA eingesetzt werden soll – allerdings stellt sich das Komplott am Ende als „Halluzination“ heraus.

Mit wesentlich höherer Qualität und Stilsicherheit überzeugt dagegen der Kurzroman THE SCARLET PLAGUE von Jack London. Das bereits 1912 erstmals veröffentlichte Werk des großen amerikanischen Abenteuer-Schriftstellers beschreibt aus der Sichtweise eines der letzten Überlebenden im Jahr 2073 den apokalyptischen Verlauf einer 2013 ausgebrochenen Pandemie, die ihre Opfer innerhalb kürzester Zeit dahinrafft und deren Kennzeichen eben eine Rotfärbung der Haut ist. Unter dem Titel DIE SCHARLACHPEST wurde die Erzählung in Deutschland erstmals um 1950 herum in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, eine Buchausgabe kam sogar erst 1976 auf den Markt. Jack Londons Post-Doomsday-Geschichte ist auch heute noch gut zu lesen und überrascht mit einigen sehr prophetischen Vorhersagen, z. B. über amerikanische Präsidenten …

Einen irre gewordenen, rachsüchtigen Molekularbiologen lässt WÜSTENPLANET-Erfinder Frank Herbert in seinem 1982 veröffentlichten Spätwerk THE WHITE PLAGUE (auf Deutsch 1984 unter dem Titel DIE WEISSE PEST erschienen) auf die Menschheit los. Dessen Versuch, einen hochaggressiven Erreger zu züchten, der von Männern übertragen wird, aber nur Frauen tötet, und diesen Erreger dann gezielt in drei Ländern zu verbreiten und die Regierungen aller übrigen Länder aufzufordern, die „befallenen“ Staaten unter Quarantäne zu stellen, geht naturgemäß komplett schief. Engagiert und kenntnisreich zerpflückt Herbert in seinem spannend geschriebenen Buch alle Argumente, die darauf hinauslaufen, Menschen aufgrund ihrer Rasse (Iren), Religion (Katholiken), Geschlechtszugehörigkeit (Männer) oder ihrer Taten (Terroristen) zu selektieren – der Mensch bleibt Mensch, egal auf welche Weise man(n) versucht, Unterschiede zu finden.

Alle diese gerade vorgestellten fiktionalen Beschreibungen zukünftiger Weltuntergänge haben den Vorteil, dass sie während des Lesens zwar einen wohligen Schauder vermitteln, nachdem das Buch aber wieder zugeklappt ist, kann man in der Realität daran mitarbeiten, solche Schreckensszenarien zu vermeiden. Ganz anders sieht es da mit historischen Berichten aus. Da erfordert es ein wesentlich tieferes Eintauchen und ein verständigeres Reflektieren des Gelesenen, um die damals realen, aber unter Umständen immer noch aktuellen Missstände zu erkennen – vor allem aber auch das, was sich seit damals zum Besseren gewandelt hat, nicht zu übersehen.

Schauen wir uns zum Beispiel mal (in Bezug auf die obigen Titel) die echte Pest an. Diese Menschheitsplage hat über Jahrtausende hinweg eine immer wiederkehrende Gefahr für den Bestand ganzer Völker gespielt. Erst nachdem die moderne Medizin die Erreger und deren Verbreitungswege erkannt und Medikamente und Impfstoffe entwickelt hatte, war eine Eindämmung der Krankheit möglich.

Ein solch furchtbarer Feind hat natürlich seine Spuren auch in der Literatur hinterlassen, in teilweise sehr erschreckenden, manchmal aber auch sehr eindringlichen Werken. Zu den auch heute noch lesenswertesten Büchern zu diesem Thema gehören zwei „Journale“ englischer Schriftsteller, die ich kurz vorstellen möchte.

Das sind zum einen DIE TAGEBÜCHER 1660– 1669, ab und zu auch als DIE GEHEIMEN TAGEBÜCHER bezeichnet, von Samuel Pepys, bei denen allein schon die Publikationsgeschichte eine eigene Erzählung wert wäre. Pepys (1633–1703) war als englischer Politiker (Abgeordneter im Unterhaus) aktiv in der Marineverwaltung und an der Spitze der Royal Society tätig. Er erlebte unter anderem die Pest-Epidemie 1665 und den großen Brand, der London 1666 innert drei Tagen zu fast achtzig Prozent zerstörte. Seine Nachlass-Bibliothek stiftete er der Bibliothek von Cambridge, die sich jedoch mehr als einhundert Jahre lang um eine Katalogisierung drückte. Erst 1818 entdeckte man dort im Rahmen der Titelaufnahme, dass zwischen den Folianten auch die TAGEBÜCHER versteckt waren, die Pepys von 1660 an etwa zehn Jahre lang führte. Die in jahrelanger mühevoller Kleinarbeit entzifferte Handschrift wurde komplett transkribiert und die edierten Texte gehören inzwischen zu den wichtigsten Quellen zu den damaligen Ereignissen. Seit 2010 gibt es auch eine deutsche Übersetzung bei Haffmans/Zweitausendeins und es lohnt sich durchaus, da mal gezielt reinzulesen, z. B. in den Band, der das Jahr 1665 umfasst.

Wer danach noch weitere Informationen benötigt, wende sich einem Autor zu, der vor allem für einen gattungsbildenden Romantext bekannt ist: Daniel Defoe (1660–1731). Bis heute gehört sein 1719 veröffentlichter ROBINSON CRUSOE zu den meistgelesenen Büchern der Weltliteratur.
Im Parallelen-Kontext soll uns hier und heute jedoch sein 1722 veröffentlichtes Sachbuch A JOURNAL OF THE PLAGUE YEAR interessieren, das auf Deutsch unter dem Titel DIE PEST ZU LONDON erhältlich ist. Obwohl Defoe erst fünf Jahre alt war, als er den Ausbruch der Krankheit in London miterlebte, weckt er im Buch den Anschein einer „Live-Reportage“. Allerdings bescheinigen ihm auch führende Historiker, dass seine Recherchen wohl sehr genau und ausführlich waren (vermutlich konnte er auf Aufzeichnungen von Verwandten zurückgreifen) – und lesbarer als trockene Geschichtsbücher ist sein „Bericht“ vermutlich auch heute noch.

So, und jetzt eine knallharte Überleitung zu einem Buch, dessen Intention und Wirkung das absolute Gegenteil zum vorher Geschriebenen darstellen:

Vor fast zweihundert Jahren machte sich ein amerikanischer Utopiker (ja, sowas gab’s damals) Gedanken darüber, wie es sein könnte, wenn man sich selbstbestimmt in sein „Home Office“ begeben und dort in aller Ruhe einmal über den Gang der Welt nachsinnen könnte – um dann bei Bedarf hin und wieder kurz in die Stadt zum Einkaufen zu laufen oder an einsamen Abenden einen der seltenen Nachbarn zu besuchen und ein wenig zu schwatzen.
Die Ergebnisse seiner Überlegungen – und vor allem seines Selbstversuchs! – nannte Henry David Thoreau WALDEN, OR LIFE IN THE WOODS und veröffentlichte sie 1854 in Buchform. 1897 wurde Thoreaus Beschreibung seines etwas mehr als zwei Jahre währenden Experiments erstmals in unsere Sprache übertragen und innerhalb kürzester Zeit wurde WALDEN ODER LEBEN IN DEN WÄLDERN erstaunlicherweise zu einem immer wieder neu aufgelegten und vielgelesenen Lieblingsbuch der Deutschen.

Wie sagt es doch sein Übersetzer Franz Meyer Anfang der 1960er Jahre so treffend:

„Es hat größere Dichter und Denker gegeben, aber… Wir schlagen sein WALDEN auf: siehe – in dem dunkelklaren Waldauge, nach dem das Buch seinen Namen erhielt, spiegelt sich nicht nur das Himmelszelt mit seinen Wolken, sondern mehr: das Weltall. Die Menschenwelt mit ihrem Lärm und verwickelten Torheiten ist verschwunden, und das Leben scheint auf eine beglückend einfache Formel gebracht. Taufrisch strahlt es wie am sechsten Schöpfungstag.“

Meine Lieblingsstelle in diesem wunderlichen Buch wird auf immer jene Szene sein, in der Thoreau ausführlich erklärt, wie wichtig es ist, dass er jetzt alleine und völlig auf sich selbst gestellt die Herausforderungen der Wildnis annimmt und überwindet – und dann geht er zum Nachbarn und leiht sich eine Axt! Diese für die USA so typische Gleichwertigkeit von Utopie und Pragmatismus ist es, die einen auf entwaffnende Art und Weise immer wieder dazu bringt, diese(n) Menschen einfach zu mögen.

Song: Pink Floyd – „Wish You Were Here“ (1975, vom Album WISH YOU WERE HERE)

Von Horst Illmer

Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr des Yushityu 2027 Mimetic-Resolution-Cartridge-View-Motherboard-Easy-To-Install-Upgrades für Infernatron/InterLace TP-Systeme für Zuhause, Büro oder Unterwegs (sic)“ (David Foster Wallace)
Sparks (The Who) / This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us (Sparks)
I get knocked down
But I get up again
You’re never going to keep me down
Pissing the night away
Chumbawamba – “Tubthumping”
(1998, vom Album TUBTHUMBER)

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Rosewater

von am 27. April 2020 Kommentare deaktiviert für Rosewater

Tade Thompson
ROSEWATER. Roman.
Band 1 der WORMWOOD-Trilogie.
Aus dem Englischen von Jakob Schmidt
(ROSEWATER / 2016)
München, Golkonda, 2020, 440 Seiten
Kartoniert, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-96509-010-1 / 20,00 €

In den letzten drei bis vier Jahren war es vor allem die Science Fiction von chinesischen Autoren, die frischen Wind in die angestaubten Ruhmeshallen der phantastischen Literatur brachte. Mit Nnedi Okorafor, N. K. Jemisin, Tomi Adeyemi und zuletzt auch Tade Thompson wirbeln jetzt afrikanisch-amerikanisch oder afrikanisch-englische AutorInnen dazwischen und erheben Anspruch darauf, dass auch der schwarze Kontinent (der bisher vor allen ein „schwarzer Fleck“ auf der Genre-Landkarte war) in der Zukunft mitmischen will.
Bei Golkonda ist soeben mit ROSEWATER der erste Band einer Trilogie erschienen, in der sich der in London von nigerianischen Eltern geborene, aber in Afrika aufgewachsene Tade Thompson damit beschäftigt, wie es in Nigeria im Jahr 2066 aussieht, nachdem dort Außerirdische einen Stützpunkt errichtet haben.
Wobei schon die Frage nicht zu entscheiden ist, ob „Wormwood“ ein einzelner, gigantischer Alien ist, oder ob und wie viele Xeno-Lebensformen unter der fast undurchdringlichen Energiekuppel leben, die sich in der Mitte Afrikas nahe des Äquators erhebt. Irgendwie müssen sich die Menschen allerdings mit dieser Situation ja einrichten, entweder weil „das Ding“ jetzt da ist, wo sie schon immer lebten, oder weil sie aus den vielfältigsten Gründen in dessen Nähe sein wollen oder müssen. In Rosewater, einer jener ungeplanten Städte, die sich aus provisorischen Zeltstädten und stetig wuchernden Blechhüttensiedlungen entwickeln, kreuzen sich jedenfalls alle diese Schicksale.
Thompson, der für seinen stilistisch ausgereiften Erstling 2019 unter anderem den Arthur C. Clarke Award erhielt, hat sich als Sprachrohr für seine Erzählung das Schlitzohr Kaaro gewählt, einen Nigerianer, der Aufgrund eines früheren Kontakts zu Wormwood über die Fähigkeit verfügt, die Gedanken anderer Menschen „lesen“ zu können. Er arbeitet deshalb für den örtlichen Geheimdienst, hat aber durchaus noch andere Interessen – und ein paar Geheimnisse, die seine Vorgesetzten nichts angehen …
Aus Kaaros Sicht erleben wir die Ankunft Wormwoods auf der Erde sowie dessen „Reise“ nach Afrika und seine Etablierung in Nigeria – erzählt mit einer mitreißenden Lebendigkeit wie man sie nur in wirklich guter Literatur findet.

Horst Illmer

Tade Thompson
ROSEWATER. Roman.
Band 1 der WORMWOOD-Trilogie.
Aus dem Englischen von Jakob Schmidt
(ROSEWATER / 2016)
München, Golkonda, 2020, 440 Seiten
Kartoniert, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-96509-010-1 / 20,00 €

In den letzten drei bis vier Jahren war es vor allem die Science Fiction von chinesischen Autoren, die frischen Wind in die angestaubten Ruhmeshallen der phantastischen Literatur brachte. Mit Nnedi Okorafor, N. K. Jemisin, Tomi Adeyemi und zuletzt

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Eine andere Welt

von am 24. April 2020 Kommentare deaktiviert für Eine andere Welt

Philip K. Dick
EINE ANDERE WELT. Roman.
Überarbeitete Neuausgabe.
Deutsche Übersetzung von Michael Nagula
Flow My Tears, The Policeman Said / 1974)
Frankfurt, Fischer, 2015, 256 S. € 9,99
ISBN: 9783596905614

Flow my tears, fall from your springs!
Exiled forever let me mourn;
Where night’s black bird her sad infamy sings,
There let me live forlorn.

(John Dowland, ca. 1600)

Jason Taverner hat ein Problem: Sein wundervolles, reiches Leben als gutverdienender Fernsehstar ist plötzlich weggewischt. Nach einem Attentat ins Koma gefallen, erwacht Taverner nicht wie erwartet im Krankenhaus, sondern in einem schäbigen Hotelzimmer.
Es ist immer noch November 1988, er hat über 5000 Dollar in bar einstecken und er kennt die Stars, die Rechtsanwälte und die Künstler-Agenten, die er immer schon kannte – nur sie kennen ihn nicht mehr. Niemand hat je eine Jason Taverner Show gesehen.
Dazu kommt, nicht nach und nach, sondern mit brutaler Plötzlichkeit, dass doch nicht alles so ist wie vor seinem Erwachen. Die USA sind zu einem Polizei- und Überwachungsstaat geworden. Ohne Ausweis ist es unmöglich, eine Arbeit zu bekommen oder zu verreisen. Auffällige Personen werden inhaftiert und ohne Umstände in Arbeitslager gesteckt. Jason fällt natürlich auf und er hat keine Papiere – und was noch schlimmer (ja eigentlich sogar unentschuldbar) ist, er existiert auch in keinem der Polizeicomputer.
Taverner sucht Bekannte und Freunde auf, die ihn jedoch nicht kennen, und so ist bald der ganze Polizeiapparat hinter ihm her. Doch es gibt immer noch Menschen, die Widerstand leisten, denen ihre Menschlichkeit und ihr Mitgefühl noch nicht abhanden gekommen ist und die bereit sind, einem Bedürftigen zu helfen.
Philip Dick erschuf mit EINE ANDERE WELT eine überzeugende und wahrlich beängstigende Antiutopie. Der Roman stellt in seinem Werk einen Übergang dar, von der fast „reinen“ Science Fiction hin zu einer mehr psychologisch-politisch orientierten, der „Mainstream“-Literatur angenäherten Prosa, in der das Phantastische seinen Platz hat, aber nur eines von mehreren Stilelementen darstellt. Wie es Brian Aldiss ausdrückte: Dick „beschreitet [ab hier] die düsteren Gassen des menschlichen Zerfalls“.
Es ist für Taverner (und damit für Dick und die Leser) keine Frage mehr, ob Drogen die Realität verändern können, sondern nur noch, ob eine Rückkehr überhaupt möglich ist.

Der Roman liegt hier als ungekürzte Neuübersetzung vor. Gegenüber der Deutschen Erstausgabe von 1977 hat sich jedoch nicht nur der Umfang vermehrt, sondern auch der Sprachduktus deutlich verändert. Michael Nagula ist wesentlich näher am Original geblieben, klingt insgesamt auch moderner und flüssiger. Die Neuausgabe von EINE ANDERE WELT in der Philip K. Dick-Edition des S.Fischer Verlags war dringend notwendig; ein solches Buch muss einfach lieferbar sein.

Horst Illmer

Philip K. Dick
EINE ANDERE WELT. Roman.
Überarbeitete Neuausgabe.
Deutsche Übersetzung von Michael Nagula
Flow My Tears, The Policeman Said / 1974)
Frankfurt, Fischer, 2015, 256 S. € 9,99
ISBN: 9783596905614

Flow my tears, fall from your springs!
Exiled forever let me mourn;
Where night’s black bird her sad infamy sings,
There let me live forlorn.

(John Dowland, ca. 1600)
Jason Taverner hat ein Problem: Sein wundervolles, reiches Leben als gutverdienender Fernsehstar

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Qube

von am 23. April 2020 Kommentare deaktiviert für Qube

Tom Hillenbrand
QUBE. Thriller.
(Aus der Welt der Hologrammatica. Band 2)
Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2020, 555 S.
KiWi-TB 1723
ISBN 978-3-462-05440-8

Hörbuch:
Gelesen von Oliver Siebeck
Ungekürzte Lesung.
Lübbe Audio
ISBN 978-3-7857-8168-5

Gut ein Jahr ist es jetzt her, dass ich an dieser Stelle den Roman HOLOGRAMMATICA von Tom Hillenbrand vorgestellt habe. Das Buch war damals als Einzelband erschienen, ohne jede Serien- oder Reihenzugehörigkeit – und für mich war das auch ganz OK.
Allerdings – und da will ich dem Autor auch gar keine Vorwürfe machen – war das „Worldbuilding“ für HOLOGRAMMATICA schon sehr aufwändig und ausgefeilt. Da ist es mehr als nur verständlich, wenn Hillenbrand diese Zukunftsvision aufrecht erhält und einen weiteren Roman dort spielen lässt. (Als Rollenspieler kann man in solcher „Ökonomie“ sicher sogar noch viel mehr Vorteile sehen als dies „gewöhnliche“ Romanleser tun.)

Jetzt also: QUBE. Das Buch ist eine direkte Fortsetzung von HOLOGRAMMATICA, setzt etwa drei Jahre nach den dort beschriebenen Ereignissen ein, und auch einige der dort bereits eingeführten Charaktere tauchen in mehr oder weniger prominenter Position wieder auf.
Sicherlich die faszinierendste Entwicklung hat Fran Bittner erfahren. War er/sie in HOLOGRAMMATICA noch eine, wenngleich wichtige, Nebenfigur, so steht Fran jetzt im Zentrum der Handlung. Allerdings gibt es auch diesmal wieder einige sehr gut herausgearbeitete neue Mitspieler, von denen der Investigativ-Journalist Calvary Doyle sicher der interessanteste ist. Zumal er gleich auf der ersten Seite erschossen wird:

„Ein geiler Arsch rettete Calvary Doyle das Leben. Doyle der im Außenbereich eines Cafés saß, gingen gerade wichtige Dinge durch den Kopf, beunruhigende, ja, welterschütternde Dinge. Aber als dieser Wahnsinnsarsch in sein Blickfeld geriet, passierte das, was ihm in solchen Fällen immer passierte: sein Verstand setzte aus. Der anonyme Arsch rettete gewissermaßen seinen. Hätte Doyle weiter geradeaus geblickt, wäre der Weg des Projektils durch seinen Schädel nämlich ein anderer gewesen …“

Und dann geht’s los, fünfhundert spannend geschriebene, actionreiche Seiten lang, über Stock und Stein (mal mehr, mal weniger von Hologrammen verborgen), in die Tiefen des Ozeans und (ja, echt) hinaus ins Weltall. Tom Hillenbrand hält wohl nichts davon, eine Idee einfach zu Tote zu reiten – da lässt er sich lieber etwas Neues einfallen.
Das Ende dieses zweiten meisterlichen Science-Fiction-Thrillers „aus der Welt der Hologrammatica“ (wie der Verlag diese Reihe – ausschließlich – auf seiner Homepage nennt) stellt mich zwar sehr zufrieden – aber eine weitere Fortsetzung wäre auch OK. 😉

Horst Illmer

Tom Hillenbrand
QUBE. Thriller.
(Aus der Welt der Hologrammatica. Band 2)
Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2020, 555 S.
KiWi-TB 1723
ISBN 978-3-462-05440-8

Hörbuch:
Gelesen von Oliver Siebeck
Ungekürzte Lesung.
Lübbe Audio
ISBN 978-3-7857-8168-5

Gut ein Jahr ist es jetzt her, dass ich an dieser Stelle den Roman HOLOGRAMMATICA von Tom Hillenbrand vorgestellt habe. Das Buch war damals als Einzelband erschienen, ohne jede Serien- oder Reihenzugehörigkeit – und für mich war das

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Irrgarten des Todes

von am 21. April 2020 Kommentare deaktiviert für Irrgarten des Todes

Philip K. Dick
IRRGARTEN DES TODES. Roman.
Überarbeitete Neuausgabe.
Übersetzt von Yoma Cap u. Alexander Martin
(A Maze of Death / 1970)
FISCHER Taschenbuch
Mai 2016 – 190 Seiten – € 12,00
ISBN: 9783596905645

Auf den ersten Blick bietet Philip Dicks Roman IRRGARTEN DES TODES kaum mehr als eine Neuauflage der Stoffe, für die er berühmt ist: Scheinwelten, Realitätsverlust, Paranoia.
Allerdings trügt dieser Schein (wie kaum anders zu erwarten), da Dick immer dort zu überraschen versteht, wo man es am wenigsten erwartet.
So wird aus der Geschichte von vierzehn Freiwilligen, die sich als Forschungsteam auf den Planeten Delmak-O begeben, sehr bald eine Studie über menschliche Verhaltensweisen in Stresssituationen.
Einer nach dem Anderen müssen die Männer und Frauen erkennen, dass dieser Planet ganz und gar nicht ist, was er zu sein vorgibt. Und ihre Mitmenschen erst recht nicht. Sind sie alle nur Versuchskaninchen des Militärs, ist einer von ihnen gar ein Spitzel oder Agent provocateur, sind sie überhaupt auf Delmak-O, oder spielt sich alles in einem gigantischen Freigelände auf der Erde ab?
Während sie noch nach Antworten suchen, beginnt das Sterben. Die Todesarten variieren und werden immer bizarrer, der ohnehin nur geringe Zusammenhalt der Gruppe zerbricht völlig. Als sich in dieser Situation einer aus der Gruppe menschlich und moralisch verhält, beginnt sich die Scheinrealität von Delmak-O aufzulösen und eine gänzliche andere kommt zum Vorschein.
Dick wächst in diesem Roman über sich hinaus. Seine bisherigen Versuche, die Welt hinter der uns umgebenden Pseudorealität des kommerzgeilen und reizüberfluteten Amerikas der 1950er und 1960er Jahre zu erkunden, gelangen immer nur Einzelhelden – und waren im Erfolgsfall zumeist sehr kurzlebig. In IRRGARTEN DES TODES stellt Dick erstmals eine Gruppe von Menschen in den Mittelpunkt. Sie alle haben ihre Probleme und Schwächen, sind Einzelgänger und Spinner. Aber die Summe ist mehr als die Einzelteile vermuten lassen.
Dieser Schritt in Richtung auf eine mögliche Lösung, sei sie nun philosophischer oder religiöser Art, gelingt Dick in diesem Roman erstmals. Hier überwindet er seine eigene Verzweiflung und lässt den Leser teilhaben an einer Entdeckung, die man in seinen oftmals verzweifelt wirkenden Geschichten kaum noch erwartet hätte – es gibt wohl doch Hoffnung!
Zudem bietet IRRGARTEN DES TODES, neben seiner durchaus spannend und geradlinig erzählten SF-Story, eine weitere Bedeutungsebene an, die gerade für Erstleser des Buches überraschende Bezüge zu heutigen Autoren bietet. Lange vor William Gibson, China Miéville und M. John Harrison vermengt Dick hier Cyberspace, Psychodrogen und Elemente des New Weird zu einer gelungenen Einheit.

Horst Illmer

Philip K. Dick
IRRGARTEN DES TODES. Roman.
Überarbeitete Neuausgabe.
Übersetzt von Yoma Cap u. Alexander Martin
(A Maze of Death / 1970)
FISCHER Taschenbuch
Mai 2016 – 190 Seiten – € 12,00
ISBN: 9783596905645
Auf den ersten Blick bietet Philip Dicks Roman IRRGARTEN DES TODES kaum mehr als eine Neuauflage der Stoffe, für die er berühmt ist: Scheinwelten, Realitätsverlust, Paranoia.
Allerdings trügt dieser Schein (wie kaum anders zu erwarten),

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Solaris

von am 20. April 2020 Kommentare deaktiviert für Solaris

Stanislaw Lem
SOLARIS. Roman.
Ü: Irmtraud Zimmermann-Göllheim
Vorwort: Ursula K. Le Guin
(Solaris / 1961)
Ullstein Taschenbuchvlg.
April 2006 – 288 Seiten – € 11,00
ISBN: 9783548606118

Hineingeworfen! Das einzig mögliche Wort, eine Besprechung von SOLARIS zu beginnen. Genauso wie der „Held“ Kris Kelvin wird der Leser hineingeworfen in eine bereits allem Kontrollierbaren entglittene Situation.
Kelvin ist Forscher, sein Auftrag ist es, dem Planeten Solaris (nach über hundertjähriger Beobachtung durch den Menschen) weitere Geheimnisse abzugewinnen. Er begibt sich also nach monatelangem Raumflug an Bord der Forschungsstation, die in 1000 Meter Höhe über der Oberfläche des planetenumspannenden „Ozeans“ schwebt. Doch schon hierbei werden seine Erwartungen nicht erfüllt. Niemand steht zu seiner Begrüßung bereit, in der Funkzentrale findet er seinen Kollegen Snaut jämmerlich betrunken vor und auf der Suche nach den beiden anderen Forschern begegnet ihm eine riesige nackte Negerin, die jedoch keinerlei Notiz von ihm nimmt.
Snaut gibt ihm lediglich orakelhaft-unklare Warnungen vor „Gästen“ mit auf den Weg, der Physiker Sartorius weigert sich gänzlich mit ihm zu sprechen und sein Freund und Lehrer Gibarian hat wenige Stunden vor Kelvins Eintreffen Selbstmord begangen. Immer mehr solcher Momente der Unklarheit und Unsicherheit lassen den anfänglich vorhandenen Willen zur Aufklärung der Lage immer mehr schwinden.
Erst als Harey auftaucht, Kelvins Frau, die vor über zehn Jahren nach einem Streit durch eine Überdosis Medikamente ihrem Leben ein Ende setzte, beginnt sich das Dunkel zu lüften. Kelvin versucht zuerst, Hareys Anwesenheit zu vertuschen, ja er schreckt selbst vor einem Mord an seinem „Gast“ nicht zurück, nur um von Snaut zu erfahren, dass er lediglich die gleichen Probleme wie die anderen Besatzungsmitglieder hat – und dass sein „Gast“ nach einigen Stunden einfach wieder erscheinen würde.
Als Harey tatsächlich wieder da ist, beginnt eine vorsichtige Annäherung zwischen Kelvin und dem – offensichtlich vom Ozean „hergestellten“ – Artefakt. Spannender als die Versuche, die Kelvin anstellt, um mehr über die körperliche Beschaffenheit Hareys zu erfahren, sind die psychologischen Einsichten, die sich dem Leser vermitteln. Aus der anfänglich völlig verunsicherten Harey emanzipiert sich innerhalb von Wochen eine junge Frau, die als selbstständige Person geliebt werden will, die keine „Kopie“ sein will – und die doch niemals loskommt von ihren Beschränkungen als Konstrukt aus Kelvins Erinnerungen an sie. Kelvin schwankt zwischen Freude über Hareys „Wiedergeburt“ und dem Ekel vor sich selbst (weil er sie begehrt, liebt und trotzdem belügt) und vor ihr (weil sie gleichzeitig so „echt“ und fremd ist). Die menschlichen Verhaltensmuster, entstanden durch Jahrhunderttausende des Zusammenlebens, „passen“ auf einmal nicht mehr.
Das führt dazu, dass Ängste und Aggressionen entstehen, die sich teils gegen die Mitbewohner, teils gegen die „Gäste“ oder den Ozean richten. Schließlich beginnen Snaut und Sartorius an einer Vorrichtung zu arbeiten, mit der sich die Materialisationen ihrer Gedanken für immer auslöschen lassen. Kelvin will sein wiedergefundenes, wenngleich fragiles Glück mit Harey jedoch keinesfalls beenden …
Die Handlung des Romans pendelt zwischen den Erlebnissen der Akteure und stillen Passagen, in denen Reflektionen auf die Geschichte der Entdeckung und Erforschung der Solaris eingestreut sind. Dabei entwirft Lem eine ganz eigene Wissenschaft, die Solaristik, und führt den Leser gleichsam nebenher vor, wie der ganze akademische Betrieb, quasi unabhängig vom Gegenstand der Betrachtung, abläuft: Theorien, Antithesen, Geldforderungen, vermeintliche Ergebnisse und deren umgehende Widerlegung, Einmischung durch Militär und Politik und darin unbeirrbar der Wissenschaftler, der seine Arbeit tut – und Publiziert. Wie Kelvin es ausdrückt: „Es sah so aus, als sollte der Ozean von einem weiteren Ozean aus Papier zugedeckt werden.“
In diesen Kapiteln lässt Lem sein intellektuelles Feuer sprühen. Er kombiniert Biologie und Mathematik, Geologie und Physik, ja selbst metaphysisch-theologische Fragestellungen mit seinem brillanten Stil. Daraus zu schließen, die Lektüre eigne sich nur für Leser mit Hochschul-Abschlüssen in Kybernetik, Psychologie und Astronomie trifft nicht zu – vielmehr versteht es Lem, wie außer ihm nur sehr wenige SF-Autoren, seine eigenen Kenntnisse auf diesen Gebieten so darzustellen, dass ein „normaler“ Leser ihnen problemlos zu folgen vermag und zusätzlichen Genuss daraus zieht, neben einer interessanten Geschichte eine Erweiterung seines Wissenshorizontes zu erfahren.
Willkommen also auf Solaris mit seinem Ozean der Geheimnisse.

Horst Illmer

Stanislaw Lem
SOLARIS. Roman.
Ü: Irmtraud Zimmermann-Göllheim
Vorwort: Ursula K. Le Guin
(Solaris / 1961)
Ullstein Taschenbuchvlg.
April 2006 – 288 Seiten – € 11,00
ISBN: 9783548606118
Hineingeworfen! Das einzig mögliche Wort, eine Besprechung von SOLARIS zu beginnen. Genauso wie der „Held“ Kris Kelvin wird der Leser hineingeworfen in eine bereits allem Kontrollierbaren entglittene Situation.
Kelvin ist Forscher, sein Auftrag ist es, dem Planeten Solaris (nach über hundertjähriger Beobachtung

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Der futurologische Kongress

von am 17. April 2020 Kommentare deaktiviert für Der futurologische Kongress

Stanislaw Lem
DER FUTUROLOGISCHE KONGRESS. Aus Ijon Tichys Erinnerungen.
(Kongres Futurologiczny / 1972)
Übersetzer: I. Zimmermann-Göllheim,
Suhrkamp Verlag AG
September 2004 – 144 Seiten – € 7,00
ISBN: 9783518370346

Stanislaw Lems Roman folgt einem klassischen Aufbauprinzip und teilt sich in einen humoristischen und einen tragischen Teil.
Es beginnt mit dem, in der Gegenwart angesiedelten Bericht vom „Futurolo­gi­schen Kon­gress“ in Costicana: Lustig, überbrodelnd, albern, satirisch nimmt er den Wissenschafts- und Tagungsbetrieb auf die Schippe. Manchmal bleibt das Lachen im Halse stecken, so genau ist alles getroffen.
Nachdem der Kongress durch Bürgerkriegswirren gestört wurde, springt die Handlung des zweiten Teils ins Jahr 2039: Der aus dem Kälteschlaf erweckte Ion Tichy lernt eine Welt kennen, in der eine glück­liche, friedli­che Menschheit in Wohlstand und Frieden lebt. Alle nehmen Psychopharmaka, und erst als Tichy sich der Me­di­ka­tion ver­wei­gert, fallen ihm gewisse Ungereimtheiten auf.
Wie von einer Zwiebel fallen von der Welt nun die Schalen der Subjektivität – und im­mer übler und schlimmer ist, was darunter zum Vorschein kommt.
In kei­ner anderen der klassischen Anti-Utopien wird die scheinbare Realität der­maßen gründlich zertrüm­mert; als Le­ser ist man ständig der Meinung, nun kann’s aber nicht mehr schlimmer werden – es wird!
Beendet wird das Schreckensgemälde durch das Aufwachen Tichys in der Kana­li­sation unter dem „Hilton“ in Costicana. Dort­hin waren er und seine Kongressbegleiter vor den Vorläufern jener C-Waffen, von denen er träumte, ge­flüchtet.
Ein Buch, welches eindrucksvoll Lems sprachliche Kompetenz und sein außer­ge­wöhnliches Wissen be­legt und ihn auf eine Stufe mit den wichtigsten Dystopien von Orwell und Huxley stellt. Seine stilistischen Finessen zeigen ihn auf einer Ebene mit so sprachgewaltigen Autoren wie James Joyce und Arno Schmidt.

Horst Illmer

Stanislaw Lem
DER FUTUROLOGISCHE KONGRESS. Aus Ijon Tichys Erinnerungen.
(Kongres Futurologiczny / 1972)
Übersetzer: I. Zimmermann-Göllheim,
Suhrkamp Verlag AG
September 2004 – 144 Seiten – € 7,00
ISBN: 9783518370346
Stanislaw Lems Roman folgt einem klassischen Aufbauprinzip und teilt sich in einen humoristischen und einen tragischen Teil.
Es beginnt mit dem, in der Gegenwart angesiedelten Bericht vom „Futurolo­gi­schen Kon­gress“ in Costicana: Lustig, überbrodelnd, albern, satirisch nimmt er den Wissenschafts-

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Parallel Lines – 3

von am 14. April 2020 Kommentare deaktiviert für Parallel Lines – 3

Von Horst Illmer

Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Der Druckfrisch-Probepackung“ (David Foster Wallace)

Amazing Journey / Amazing Stories (The Who / John W. Campbell Jr.)

Die US-amerikanische Romanistin Ursula Kroeber Le Guin pflegte zu Beginn ihrer Essays häufig einen Blick in das „Buch der Bücher“ (UKLG) zu werfen, womit sie natürlich das OXFORD ENGLISH DICTIONARY (OED) meinte. Wir wollen uns an dieser Stelle mit dem „alt’n“ und „unvergleichlichen“ (Arno Schmidt) MURET-SANDERS von 1901 begnügen und einmal unter „amazing“ nachsehen, welche Bedeutungen wir im „Enzyklopädischen Wörterbuch“ angeboten bekommen. Es sind dies: „höchst erstaunlich“, „staunenswert“ und „wunderbar“ – aber auch „erschreckend, betäubend, schrecklich“ (wenngleich bereits damals als „veraltet“ gekennzeichnet).

Dies immer mitgedacht, wollen wir heute einmal einen Blick in drei sehr unterschiedliche Bücher werfen, deren geheime Zentren mehr „erschreckende“ als „wunderbare“ Geschichten über das Reisen in „höchst erstaunlichen“ Zeiten sind.

„Ein bösartiges Virus, das im Fernen Osten sein Zerstörungswerk beginnt, dann aber auch auf Indien, die Sowjetunion und Westeuropa übergreift, vernichtet sämtliche Gras- und Getreidesaaten, so daß der Hunger sich zum Herrn erhebt und alle moralischen Schranken niederreißt.“
So hebt der Klappentext der deutschen Erstausgabe von John Christophers Roman DAS TAL DES LEBENS an, der 1959 als Hardcover im Verlag der Gebrüder Weiss veröffentlicht wurde. Die Originalausgabe erschien im United Kingdom bereits 1956 unter dem exakt konträren Titel THE DEATH OF GRASS.
Ob das Glas nun halbvoll oder halbleer ist, hängt für die Protagonisten des Buches vor allem davon ab, auf welcher Seite der Palisade sie am Ende stehen. Denn die eine Gruppe hat sich in ein abgelegenes Tal gerettet, in dem ein kluger Landwirt Rüben und Kartoffeln anbaut, während sein Bruder mit Familie und einigen Zufallsbekanntschaften zu einer Schreckensodyssee von London aus nach Norden aufbricht. Als die Überlebenden nach verlustreichen Kämpfen dann am Tor ankommen, ist die „Arche voll“ – und die Brüder müssen, jeder für sich, ihre schwerste Entscheidung treffen …

Wie ein echter Schelmenroman wirkt dagegen auf den ersten Blick Arno Schmidts fast zeitgleich entstandener „Kurzroman aus den Roßbreiten“, der 1957 unter dem Titel DIE GELEHRTENREPUBLIK veröffentlicht wurde. In der mehr als fünfzig Jahre in die Zukunft versetzten Erzählung erhält der amerikanischer Journalist Charles H. Winer die (selten erteilte) Erlaubnis zur „International Republic of Artists and Scientists“ (IRAS, oder eben: „Gelehrtenrepublik“) zu reisen und eine „Homestory“ über deren von der Weltgemeinschaft alimentierte „Besatzung“ aus internationalen Künstlern und Forschern zu machen.
Bereits die Anreise wird jedoch schon ein Abenteuer eigener Qualität, erfolgt sie doch per Ballonflug über den sogenannten „Hominidenstreifen“, ein riesiges, atomverseuchtes Areal inmitten der alten USA, das von zwei gigantischen Mauern eingeschlossen ist und von Tier-Mensch-Mutanten bewohnt wird, mit denen jeder Umgang strengstens untersagt ist. Nachdem Winers Ballon dort notlanden muss, kommt er allerdings ungewollt in sehr direkten (und teileweise auch sehr intimen) Kontakt mit den dort lebenden Zentauren. Nur ihnen ist es zu verdanken, dass Winer überlebt und seine Reise fortsetzen kann. Nicht ohne zuvor jedoch intensiv von Militärwissenschaftlern befragt zu werden, die ihre Chance wittern, mehr über das Leben im Reservat zu erfahren. Unterdessen erkennt Winer, dass hier von skrupellosen Biogenetikern versucht wird, die nach dem Atomkrieg entstandenen „wilden“ Mutationen und Hybridwesen zu zähmen und zu züchten, um „Biowaffen“ zu erzeugen.
Auf der IRAS angekommen braucht Winer nicht allzu lange, um herauszufinden, dass auch in einer „Gelehrtenrepublik“, dieser scheinbar zivilisiertesten aller Gesellschaften, der Schein trügt. Die in zwei politische Lager geteilte schwimmende Insel, auf der die IRAS-Bewohner durch die Weltmeere schippern, ist nur ein weiteres „Labor“, in dem zum Beispiel Sportler mittels Bioengineering zu Höchstleistungen gebracht und sogar die Gehirne von Genies von den jeweils gegnerischen Geheimdiensten „geklaut“ (und in Hunde- bzw. Pferdeköpfen zwischengelagert) werden.
Bei Schmidt liest sich das zuerst einmal sehr unterhaltsam, bis man dann merkt, welche Schrecken unter dieser obersten Erzählschicht liegen. Zutiefst pessimistisch ist Schmidts Erkenntnis, dass sich die alteingefahrenen Muster von Machtmissbrauch und Schwarz-Weiß-Denken, von skrupellosem Gewinnstreben und naivem Obrigkeitsglauben auch durch die schrecklichste damals vorstellbare Katastrophe eines Atomkriegs nicht ändern werden.
So hält uns einer der sprachmächtigsten und klügsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts in dieser Parabel erneut einen SCHWARZEN SPIEGEL (siehe die gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1951) vor.

Ein Virus, das eine weltweite Pandemie auslöst, ein Atomkrieg, der den „Nuklearen Winter“ nach sich zieht, ein Kometeneinschlag, der Klimawandel – lauter Großereignisse, die sich zu spannenden Geschichten machen lassen.
Und dann gibt es da noch die ganz wenigen AutorInnen, die sich ohne viel Lärm zu machen, mit den ganz kleinen „Dingen“ beschäftigen. Wie zum Beispiel mit Bienen.
Das moderne, nicht-mythisch-märchenhafte Bild der Insektenwelt wurde, neben der von Charles Darwin formulierten Evolutions-Theorie, vor allem durch die naturkundlichen Bestimmungsbücher Alfred Brehms geprägt, die ab 1863 in mehreren Auflagen unter dem Titel BREHMS TIERLEBEN erschienen. Den folgenden Abschnitt habe ich dort gefunden und fand ihn einfach so schön, dass ich ihn hier kurz hinsetzen muss:

„Die Bienen leben in einem wohlgeordneten Staate, in welchem die Arbeiter das Volk, ein von diesem erwähltes, fruchtbares Weibchen die allgemein geliebte und gehätschelte Königin (auch Weisel genannt) und die Männchen die wohlhäbigen, vornehmen Faulenzer darstellen, die unumgänglich nötig sind, aber nur so lange geduldet werden, als man sie braucht. Diese Einrichtung ist darum so musterhaft, weil jeder Teil an seinem Platze seine Schuldigkeit im vollsten Maße thut, will keiner mehr oder weniger sein will als das, wozu ihn seine Leistungsfähigkeit bestimmt.“
Artikel „Die gemeines Honigbiene, Hausbiene (Apis mellifica)“, in: BREHMS TIERLEBEN. Allgemeine Kunde des Tierreichs. 3. Auflage, 1892, Seite 218 f.

Ach ja. Seufz. RIESENSEUFZER!

Das waren noch Zeiten. Kurz darauf, im Jahr 1912, erfuhr das Thema „Biene“ dann seine ultimative literarische Ausformung, als die erste Auflage von Waldemar Bonsels Kinderbuch DIE BIENE MAJA UND IHRE ABENTEUER in die Buchhandlungen kam und innerhalb kürzester Zeit einen beispiellosen Siegeszug um die Welt antrat.

Die Science-Fiction-Variante der Roboter-Bienen hatte ihren Auftritt dann 1957 (als Charles Henry Winer von Arno Schmidt in die Rossbreiten geschickt wurde) in Ernst Jüngers Roman GLÄSERNE BIENEN. Wie häufig bei Jünger wird ein hochmoderner, zukunftsweisender Aspekt in einer hochliterarischen Sprache voller altfränkischer Einsprengsel vorgeführt, die ihren ganz eigenen Sog erzeugt (oder für manche Leser einfach abschreckend wirkt).

Das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt war dann schließlich die 2015 von der norwegischen Autorin Maja Lunde veröffentlichte BIENES HISTORIE, die 2017 bei uns unter dem Titel DIE GESCHICHTE DER BIENEN erschien.
In drei hervorragend durchkonstruierten Erzählsträngen verbindet Lunde die Geschichte dreier Familien miteinander, deren Schicksale in England (1852), den USA (2007) und China (2098) jeweils sehr eng in Verbindung stehen, mit dem der Honigbienen – die in der Vergangenheit zuverlässige „Haustiere“ abgaben, in der Gegenwart vom Aussterben bedroht sind und in der Zukunft auch durch den Einsatz „bienenfleißiger“ Menschen nicht wirklich ersetzbar sind.
Natürlich war es Zufall, dass hierzulande damals gerade eine Volksabstimmung über die Verankerung des Umweltgedankens in der Verfassung stattfand – aber der Slogan „Rettet die Bienen“ und Maja Lundes Buch halfen sicherlich mit, das für den Umweltschutz so wichtige positive Ergebnis der Abstimmung zu erreichen.

Soweit für heute. Unsere „amazing journey“ hat uns zu gleichermaßen wunderbaren wie erschröcklichen Büchern geführt, voll mit Geschichten, die „des Staunens wert“ sind – und an deren Ende viele weiter AMAZING STORIES auf uns warten.

Song: Blue Öyster Cult – „Don’t Fear the Reaper” (1976, vom Album AGENTS OF FORTUNE)

Von Horst Illmer
Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Der Druckfrisch-Probepackung“ (David Foster Wallace)
Amazing Journey / Amazing Stories (The Who / John W. Campbell Jr.)
Die US-amerikanische Romanistin Ursula Kroeber Le Guin pflegte zu Beginn ihrer Essays häufig einen Blick in das „Buch der Bücher“ (UKLG) zu werfen, womit sie natürlich das OXFORD ENGLISH DICTIONARY (OED) meinte. Wir wollen uns an dieser

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Stein und Flöte und das ist noch nicht alles

von am 13. April 2020 Kommentare deaktiviert für Stein und Flöte und das ist noch nicht alles

Bemmann, Hans
STEIN UND FLÖTE UND DAS IST NOCH NICHT ALLES.
Ein Märchen-Roman.
Stuttgart, Edition Weitbrecht, 1983, 821 S.
Neuauflage:
München, Piper, 2020, 944 Seiten
ISBN 978-3-492-28230-7

Einem Buch wie diesem mit einer Rezension gerecht zu werden ist schlicht unmöglich. Deshalb, mit einem Wort:

WUNDERSCHÖN!

Horst Illmer

Bemmann, Hans
STEIN UND FLÖTE UND DAS IST NOCH NICHT ALLES.
Ein Märchen-Roman.
Stuttgart, Edition Weitbrecht, 1983, 821 S.
Neuauflage:
München, Piper, 2020, 944 Seiten
ISBN 978-3-492-28230-7
Einem Buch wie diesem mit einer Rezension gerecht zu werden ist schlicht unmöglich. Deshalb, mit einem Wort:
WUNDERSCHÖN!
Horst Illmer

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Der letzte seiner Art

von am 11. April 2020 Kommentare deaktiviert für Der letzte seiner Art

Andreas Eschbach
DER LETZTE SEINER ART. Roman.
Bastei-Lübbe Taschenbücher
Mai 2005 – 352 Seiten – € 8,99
ISBN: 9783404153053

Andreas Eschbach ist einer der wenigen Verfasser utopisch-phantastischer Literatur, dessen Namen allein ausreicht, ein Buch zu verkaufen. Zudem ist es Eschbach auch noch gelungen, den sonst so unerbittlichen Klammern der Genreliteratur zu entkommen. Von Beginn an hat er sich den „Schubladen“ verweigert, auf die man ihn festlegen wollte. Niemals war er „nur“ Science Fiction-Autor oder Krimischreiber. Sein Blick über den Tellerrand, seine Offenheit für literarische „Crossover“ waren es, die ihn sowohl populär und gleichzeitig interessant für das Feuilleton machten.

Diese thematische Ungezwungenheit ist es auch, die den Reiz seines Romans DER LETZTE SEINER ART ausmacht. Es ist eine gelungene Collage aus Agentenstory, Politthriller und technischer Fantasie, gemixt mit einem sehr großen Schuss Melancholie.
Wenn es neben „routinierter Langeweile“ nämlich eines Begriffes zur Beschreibung des Seelenzustandes von Duane Fitzgerald bedürfte, wäre „Melancholie“ das einzig richtige Wort.
Er ist ein Soldat, der noch vor Erreichen seiner besten Jahre in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Er ist scheu und zurückgezogen, teils aus eigenem Antrieb, teils aber auch, weil er zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet wurde. Die Geheimnisse, die er mit sich herumträgt, sind geeignet, ganze Regierungen zu stürzen und diverse Militäraktionen der letzten Jahrzehnte in völlig neuem Licht erscheinen zu lassen.
Über zehn Jahre ist auch alles gut gegangen: Fitzgerald hat sich, nach seiner Pensionierung vom US-Militär, eine neue Zuflucht in der Heimat seiner Vorväter, in Irland gesucht. Das kleine Städtchen Dingle an der Atlantikküste war gerade richtig für ihn. Ein kleines Häuschen, nette Nachbarn, die ihn in Ruhe ließen, eine Post, eine Bank, ein Einkaufszentrum – eben alles, was ein Mensch, der anonym bleiben will und dennoch auf nichts verzichten muss, so braucht.
Doch plötzlich ist es vorbei. Erst taucht ein mysteriöser Japaner auf, der überall nach Duane fragt, dann wird dieser in seinem Hotelzimmer ermordet. Danach findet Fitzgerald keine Ruhe mehr. Seine wöchentlichen Spezialpakete bleiben aus, seine Kreditkarte wird gesperrt, und überall laufen auf einmal Männer in schwarzen Anzügen und mit einem Handy am Ohr herum. Duane kommt sich vor wie ein Kaninchen in der Falle – und die Schlinge zieht sich immer enger.
Gekonnt und stilsicher beschreibt Eschbach den inneren Kampf, der in Duane entbrennt, zwischen Loyalität zur Truppe, zum geleisteten Eid und dem Wunsch, die in ihm schlummernde Kampfmaschine ein letztes Mal zum Leben zu erwecken.

Horst Illmer

Andreas Eschbach
DER LETZTE SEINER ART. Roman.
Bastei-Lübbe Taschenbücher
Mai 2005 – 352 Seiten – € 8,99
ISBN: 9783404153053
Andreas Eschbach ist einer der wenigen Verfasser utopisch-phantastischer Literatur, dessen Namen allein ausreicht, ein Buch zu verkaufen. Zudem ist es Eschbach auch noch gelungen, den sonst so unerbittlichen Klammern der Genreliteratur zu entkommen. Von Beginn an hat er sich den „Schubladen“ verweigert, auf die man ihn

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H.P. Lovecraft – Leben und Werk

von am 9. April 2020 1 Kommentar

Joshi, S. T.
H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK. Band 1: 1890–1924.
Deutsch von Andreas Fliedner
Vorbemerkung von Michael Siefener
(I AM PROVIDENCE. THE LIFE AND TIMES OF H. P. LOVECRAFT / 2010)
München Berlin, Golkonda, 2017, 734 S.
ISBN 978-3-944720-51-7 / 39,90 €

H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK. Band 2: 1925–1937.
München, Golkonda, 2020, 669 S.
ISBN 978-3-944720-52-4 / 39,90 €

S. T. Joshi, in den letzten dreißig Jahren die treibende Kraft im Bemühen, H. P. Lovecrafts Leben und Werk zu erschließen, hat im Jahr 2010 eine Biografie, ach, was sage ich: DIE BIOGRAFIE auf die alle Lovecraft-Leser gewartet haben veröffentlicht.

Zwar gab es schon vor Joshis Buch einige Versuche, Lovecrafts irdisches Dasein aufzubereiten, aber außer den leicht zu ermittelnden Rahmendaten blieben doch allzu viele Fragen ungeklärt. Die bis dato erfolgreichste – und umstrittenste – Veröffentlichung war LOVECRAFT – A BIOGRAPHY aus dem Jahr 1975, geschrieben von Lyon Sprague de Camp (1907–2000), einem Autor, der nicht nur Zeitgenosse war, sondern auch durch die Herausgabe von Robert E. Howards CONAN-Texten tiefere Einblicke in das Beziehungsgeflecht des „Lovecraft-Zirkels“ gewonnen hatte.

Es war dieses Buch, das Joshi dazu reizte, sich näher mit dem sonderbaren Schriftsteller aus Providence zu beschäftigen, was ihn in der Folgezeit zum weltweit führenden Lovecraft-Fachmann machte. Nach jahrzehntelangen Forschungen erschien 1996 dann H. P. LOVECRAFT. A LIFE, das trotz seiner mehr als 700 Seiten als „gekürzte“ Ausgabe gilt. Erst 2010, in dem überarbeiteten, nunmehr 1200 Seiten umfassenden, zweibändigen Werk I AM PROVIDENCE. THE LIFE AND TIMES OF H. P. LOVECRAFT, konnte S. T. Joshi erstmals das gesamte Material vorlegen, das er angehäuft hatte.
Im Golkonda Verlag erscheint diese spektakuläre Biografie unter dem Titel H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK in der deutschen Übersetzung von Andreas Fliedner, ebenfalls in zwei Teilen.

Der „Band 1: 1890–1924“ nimmt vor allem die Wurzeln Lovecrafts, seine frühen Schreibversuche und die Zeit seines literarischen Erwachens unter die Lupe. Das beginnt mit der Suche nach Vorfahren, reicht über die merkwürdig-komplizierten Familienverhältnisse und die Krankengeschichten direkter Verwandter bis zu Lovecrafts Entwicklung eigener Symptome und Seltsamkeiten.

Am Ende des ersten Teils von H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK sehen wir den „Einsiedler von Providence“ verstrickt in eine eigentlich unmöglichen Ehe und gemeinsam mit seiner Frau Sonia Greene unfassbarer Weise nach New York umgezogen. Und, wie Joshi es in einem genialem Cliffhanger formuliert, „wenn Lovecraft dachte, dass 1924 ein hartes Jahr für ihn gewesen sei, dann nur, weil er noch nicht wusste, was 1925 auf ihn zukommen sollte.“ (S. 682)

Damit startet in „Band 2: 1925–1937“ der Berichtszeitraum, der die letzten zwölf Lebensjahre – die zugleich die produktivsten waren und die bedeutendsten Ergebnisse zeitigten – umfasst.
Natürlich ist es mit Sonja Greene und New York nicht gut ausgegangen, und so scheidet HPL von Beiden und kehrt zurück in seine Heimatstadt Providence. Ein Ereignis, dass Joshi unter der Rubrik „Rückkehr ins Verlorene Paradies“ verzeichnet. Beginnend mit „Cthulhus Ruf“ schreibt Lovecraft nun alle seine inzwischen zu Klassikern gewordenen Geschichten, ebenso den großen Essay „Das übernatürliche Grauen in der Literatur“, der die Phantastik-Rezeption in den USA auf Jahrzehnte prägte. Natürlich werden auch seine prekären Lebensumstände und seine mit grässlichen Schmerzen verbundenen letzten Wochen (HPL starb am 15. März 1937) nicht ausgespart, und im letzten Kapitel rekapituliert Joshi noch einmal das Phänomen des postmortalen Welterfolgs seither.

Joshi stützt sich in seiner Biografie nicht nur auf seine umfassende Einsicht in den wohl umfangreichsten literarischen Briefwechsel eines nordamerikanischen Autors, sonder auch auf eine philologisch ungewöhnlich tiefgehende Parallelsetzung von Autor und Werk, die indes jederzeit begründet und belegt wird. Im Anhang findet sich dazu eine sehr umfangreiche Literaturliste und natürlich erschließen sich die Bände über gleich mehrere Register.

Die beiden Bücher, obwohl nicht illustriert, sind sowohl optisch als haptisch ein Genuss: Das Layout, das Susanne Beneš (aka „benswerk“) für Schutzumschlag und Bucheinband maßgeschneidert hat, ist ebenso stimmig wie der von Hardy Kettlitz erstellte Satz lesbar ist – und die jeweils zwei goldgelben Lesebändchen machen die Sache wunderschön „rund“.

Wie fragt sich Michael Siefener in seiner „Vorbemerkung“ im ersten Band in Bezug auf H. P. Lovecrafts Bedeutung als Autor phantastischer Literatur dann auch so schön provokativ: „braucht man deshalb gleich eine zweibändige Biografie über ihn?“ (S. I), bevor er uns teilhaben lässt an einem äußerst unterhaltsamen Streifzug durch jene letzten fünfzig Jahre Lovecraft-Lektüre, in denen wir „doch gar nichts“ hatten, wenn wir etwas über diesen Schriftsteller erfahren wollten. Sein Fazit: „Zumindest die zeitgenössischen Entdecker von Lovecrafts Werken können also nicht mehr behaupten: `Wir haben ja gar nichts´ wenn sie abseits der oft zweifelhaften Quellen des Internets nach verlässlichen Informationen über das Leben Lovecrafts suchen. Hier sind sie.“ (S. V)

Horst Illmer

Joshi, S. T.
H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK. Band 1: 1890–1924.
Deutsch von Andreas Fliedner
Vorbemerkung von Michael Siefener
(I AM PROVIDENCE. THE LIFE AND TIMES OF H. P. LOVECRAFT / 2010)
München Berlin, Golkonda, 2017, 734 S.
ISBN 978-3-944720-51-7 / 39,90 €

H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK. Band 2: 1925–1937.
München, Golkonda, 2020, 669 S.
ISBN 978-3-944720-52-4 / 39,90 €
S. T. Joshi, in den

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Rumo

von am 7. April 2020 Kommentare deaktiviert für Rumo

Walter Moers
RUMO & DIE WUNDER IM DUNKELN.
Ein Roman in zwei Büchern.
Illustriert vom Autor.
Piper Verlag GmbH
August 2004 – 704 Seiten – € 14,00
ISBN: 9783492241779

Stellt euch einen Schrank vor!
Ja, einen großen Schrank mit vielen Schubladen,
der alle Wunder und Geheimnisse Zamoniens enthält,
restlos alle, alphabetisch geordnet.
Ein Schrank, schwebend in absoluter Dunkelheit.
Könnt ihr euch das vorstellen?
Gut! Nun seht, wie sich eine dieser Schubladen öffnet!
Die mit dem Buchstaben R.
R wie Rumo.
Und jetzt schaut hinein! Schaut tief hinein!
Bevor sie sich wieder schließt.

Wieder einmal entführt uns Walter Moers in die von ihm erschaffene Zauberwelt Zamonien. Hier haben die alten Mythen und Sagen ihren Ursprung, die Märchen und Fabeln unserer Kinderzeit sind hier lebendig; Zamonien ist das Paradies für die Phantasie.
Viele der von Moers hier verwendeten Figuren und Völker finden sich schon in den Vorgänger-Romanen DIE 13 ½ LEBEN DES KÄPT’N BLAUBÄR und ENSEL & KRETE, doch auch Leser, die mit diesem Buch „einsteigen“, finden sich mühelos zurecht. Moers ist ein Meister der Abschweifung und so bekommt sowieso jede „erklärungsbedürftige Lebensform“ eine Geschichte verpasst.
Der eigentliche Held der Geschichte ist natürlich Rumo, ein verwaister Wolpertinger, der nach ersten abenteuerlichen Erlebnissen auf den Teufelsfelsen in die Zivilisation der Stadt Wolperting gelangt und dort seinen Platz im Leben sucht. Doch noch bevor er ihn recht findet, geschieht Unfassbares: Alle Einwohner der Stadt werden in das unterirdische Reich „Untenwelt“ entführt. Nun erst kann Rumo zeigen, was alles in ihm (und in seinem „zwiespältigen“ Schwert) steckt …
Moers versprüht in seinem Roman jede Menge Humor, Satire, Sprachwitz und stilistische Eleganz. Sein Erfindungsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen, und so fügt sich der Vielzahl skurrilster Einfälle, die den Kontinent Zamonien recht eigentlich ausmachen, eine große Anzahl neuer Entdeckungen hinzu – Dinge, die bisher unter der Oberfläche ruhten und von denen einige wohl auch besser nicht aufgescheucht worden wären.
Obwohl am Ende die glückliche Heimkehr des Helden die Geschichte zu einem versöhnlichen Abschluss bringt, ist RUMO & DIE WUNDER IM DUNKELN an vielen Stellen auch ein düsteres Buch. Moers lässt seine Figuren nicht mehr so glücklich und ungeschoren davon kommen, wie noch in den ersten Bänden, die Abenteuer werden grausamer und bluttriefender, vor allem für die eigentlich positiv gezeichneten Protagonisten. So bleibt trotz aller Begeisterung für dieses wunderschöne Buch ein winziger Nachgeschmack zurück – der Sündenfall hat auch im Paradies Zamonien stattgefunden.

Horst Illmer

Walter Moers
RUMO & DIE WUNDER IM DUNKELN.
Ein Roman in zwei Büchern.
Illustriert vom Autor.
Piper Verlag GmbH
August 2004 – 704 Seiten – € 14,00
ISBN: 9783492241779
Stellt euch einen Schrank vor!
Ja, einen großen Schrank mit vielen Schubladen,
der alle Wunder und Geheimnisse Zamoniens enthält,
restlos alle, alphabetisch geordnet.
Ein Schrank, schwebend in absoluter Dunkelheit.
Könnt ihr euch das vorstellen?
Gut! Nun seht, wie sich eine dieser Schubladen öffnet!
Die mit

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Corpus Delicti

von am 4. April 2020 Kommentare deaktiviert für Corpus Delicti

Juli Zeh
Corpus Delicti. Ein Prozess.
btb Taschenbuch
August 2010 – 263 Seiten – € 7,99
ISBN: 9783442740666

„Von allen Seiten durchziehen Magnetbahn-Trassen in schnurgeraden Schneisen den Wald. Dort, wo sie sich treffen, irgendwo inmitten des reflektierenden Dächermeers, also mitten in der Stadt, mitten am Tag und in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts – dort beginnt unsere Geschichte“.

Deutschland, ein Hygienemärchen: Im Jahr 2050 gibt es keine Krankheiten mehr, die Umweltverschmutzung ist beseitigt. Elektroautos auf den Straßen und Luftschiffe am strahlendblauen Himmel, Solarzellen auf den Dächern und Warnschilder vor den letzten nicht ganz keimfreien Zonen (sprich vor der „freien Natur“ außerhalb der Städte) prägen das Erscheinungsbild. Gegenseitige Berührungen sind unerwünscht, Trinken und Rauchen gelten als kriminelle Handlungen, Fortpflanzung findet nur nach der staatlich festgeschriebenen DNA-Kompatibilitätsüberprüfung statt – das alles hat METHODE.
Die herrschende Staatsform, eben die METHODE, erweist sich bei näherer Betrachtung als Sozialstaatsdiktatur in Reinkultur. Zu ihrer Verteidigung steht der „Methodenschutz“ parat, dessen Eingreifen jedoch kaum noch nötig ist, da der Großteil der Bevölkerung sich offensichtlich mit der METHODE arrangiert hat.
Erst der „Fall Moritz Holl“ schlägt Wellen, die nicht nur die bis dahin gleichmütige Öffentliche Meinung bewegen, sondern auch mehr verborgenen Unrat an die Oberfläche spülen, als der Staatsmacht lieb sein kann. Mia Holl, Biologin und Schwester des wegen Mord und Vergewaltigung angeklagten Moritz, wandelt sich von der Mitläuferin zur Zweiflerin und schließlich zur Gegnerin des Systems.
Ihr Widerpart ist Heinrich Kramer, ein Vorzeigeintellektueller, dessen Forschungen, Veröffentlichungen und Medienauftritte die METHODE erst zu der überzeugenden und ohne Alternative dastehenden Gesellschaftsform machen, die sie für den Großteil von Mias Mitmenschen darstellt.
Da der Mensch jedoch auch in diesem System zuallererst Mensch (und damit unvollkommen) ist, gibt es natürlich auch Widerspruch und Widerstand – festgemacht an den unterschiedlichsten Gründen: dem Wunsch nach einer Zigarette, der Furcht vor staatlicher Dauerüberwachung, der Überzeugung, das man ein „Recht auf Krankheit“ habe, oder die Liebe zu einem „unpassenden“ Partner, mit dem man zusammenleben und Kinder haben will.

In ihrer gleichzeitig trefflich-knappen und eingängigen Prosa beschreibt Zeh die Entwicklung Mia Holls vom funktionierenden Rädchen im METHODEN-Getriebe zur Integrationsfigur des bis dahin unkoordinierten Widerstands gegen den übermächtigen Staatsapparat. Dabei wechselt Zeh, als scheinbar objektive Erzählerin, geschickt zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsform, um so das Gesamtbild sichtbar zu machen. Die Präzision ihrer Sprache verursacht beim Lesen ein fast körperliches Mitleiden und transportiert eine Materialfülle, die am Ende den Eindruck hinterlässt, man habe ein wesentlich umfangreicheres Werk in der Hand gehabt.

Was CORPUS DELICTI zu einem wirklich aufregenden und spannenden, mitreißenden und mitnehmenden, Angst einflößenden und doch auch Mut machenden Buch werden lässt, begründet sich vor allem in seiner Zugehörigkeit zu einer Literaturgattung, die in ihren besten Werken die Gesellschaft veränderten, die kulturell und politisch „wirksam“ waren: der Dystopie.
Zu diesen anti-utopischen, vor gefährlichen Entwicklungen warnenden Büchern gehören Romane wie 1984 (George Orwell) oder das sprichwörtlich gewordene SCHÖNE NEUE WELT (Aldous Huxley). Es ist Juli Zeh alle Achtung dafür zu zollen, dass sie sich mit CORPUS DELICTI in solch erlauchte Gesellschaft begeben hat, sich an diesen Büchern zu reiben wagt und sich an ihnen messen lassen will.
Viel zu wenig hatte die deutsche Literatur bisher in dieser Kategorie zu bieten!

Horst Illmer

Juli Zeh
Corpus Delicti. Ein Prozess.
btb Taschenbuch
August 2010 – 263 Seiten – € 7,99
ISBN: 9783442740666
„Von allen Seiten durchziehen Magnetbahn-Trassen in schnurgeraden Schneisen den Wald. Dort, wo sie sich treffen, irgendwo inmitten des reflektierenden Dächermeers, also mitten in der Stadt, mitten am Tag und in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts – dort beginnt unsere Geschichte“.
Deutschland, ein Hygienemärchen: Im Jahr 2050 gibt es

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Die Straße

von am 3. April 2020 Kommentare deaktiviert für Die Straße

Cormac McCarthy
DIE STRASSE. Roman.
Deutsch von Nikolaus Stingl
(The Road / 2006)
Reinbek, Rowohlt, 2007, 253 S.
ISBN 9783499246005 12,00 Euro

In seiner amerikanischen Heimat wird Cormac McCarthy vor allem als realistischer Autor geschätzt, der sein Land, seine Mitmenschen, seine Gesellschaft sehr genau beobachtet und beschreibt. Vor allem seine knappen, nichtsdestoweniger glaubwürdigen Charakterdarstellungen und die in ihrer Art einmaligen Dialoge begeistern Leser und Kritiker immer wieder. Man könnte seine Prosa wohl am ehesten mit „dehydriert“ – ohne unnötige Ausschweifungen – umschreiben.
Und nun legt dieser Autor einen phantastischen Roman vor, ein postapokalyptisches Science-Fiction-Werk. Wie alle große Literatur steht auch DIE STRASSE über allen Genrebeschränkungen; der Autor nimmt sich, was er für die Darstellung seines Anliegens braucht aus der großen Kiste der weltliterarischen Formen – oder eben aus der Rumpelkammer der Zukunftsliteratur.
In DIE STRASSE, dies fällt von Beginn an auf, scheint niemals die Sonne. Immer ist der Himmel wolkenverhangen, mal fällt Schnee, mal Regen, mal ziehen Rauchwolken, mal Staubschleier durch das Blickfeld des namenlosen Vaters, der mit seinem Sohn durch ein fast menschenleeres, verheertes Nordamerika zieht. Ihr Ziel ist „der Süden“, weil es da vielleicht wärmer ist (denn in diesem Buch ist es auch durchgängig kalt, wobei McCarthy mindestens so viele Formen von „kalt“ kennt, wie die Inuit Namen für „Schnee“ haben), allerdings führen die von ihnen benutzten „Straßen“ vor allem nach Westen. Es ist das Meer, das Vater wie Sohn erreichen wollen, angetrieben durch die letzte, uneingestandene Sehnsucht, nach all dem Grau einmal noch etwas zu sehen, das Farbe hat – das „Blau“ einer unmöglichen Hoffnung.
Seit einiger Zeit werden weltweit verstärkt die Auswirkungen einer Klimakatastrophe thematisiert. Dabei scheint es relativ egal, ob es zur vom Treibhauseffekt bewirkten Überhitzung der Atmosphäre kommt, oder wie von manchen befürchtet, zum Nuklearwinter nach dem großflächigen Einsatz unserer Atomwaffen. Verlierer wird in jedem Fall die gesamte Bevölkerung sein. Die von den Wissenschaftlern vorgetragenen Thesen, die Zahlen, die Rechenbeispiele, die abstrakt dargestellten Bedrohungen – das alles führt zwar dazu, dass die Problematik rationell wahrgenommen wird, aber es lässt dem Individuum immer noch den Ausweg des Zweifels. Die Ungenauigkeit der Berechnungen, der Widerspruch einzelner Fachleute gegen die Theorien ihrer Kollegen, der undefinierbare Zeitpunkt der Katastrophe helfen uns dabei, die Augen zu verschließen und erst einmal weiterzumachen.
Diesen Ausweg lässt DIE STRASSE nicht zu. Bei McCarthy ist das (befürchtete und doch niemals geglaubte) Ereignis eingetreten, seine Auswirkungen haben Land und Leute verwandelt – und es ist eine schreckliche, unmenschliche Welt, die entstanden ist. In seiner ebenso faszinierenden wie erschreckenden Geschichte dieser Nachkatastrophenzeit wird der Mensch zur Kreatur, die kaum mehr in der Lage ist zu agieren, sondern instinktgesteuert reagieren muss, um ihr bejammernswertes Leben für einen weiteren Tag, eine weitere Stunde, zu „retten“.
Gnadenlos, ohne Rücksicht auf (falsche) Empfindlichkeiten, zeigt der Autor die Ergebnisse einer falschen Politik und erweist sich, gerade durch die Nutzung des Phantastischen, erneut als großer Realist.

Horst Illmer

Cormac McCarthy
DIE STRASSE. Roman.
Deutsch von Nikolaus Stingl
(The Road / 2006)
Reinbek, Rowohlt, 2007, 253 S.
ISBN 9783499246005 12,00 Euro
In seiner amerikanischen Heimat wird Cormac McCarthy vor allem als realistischer Autor geschätzt, der sein Land, seine Mitmenschen, seine Gesellschaft sehr genau beobachtet und beschreibt. Vor allem seine knappen, nichtsdestoweniger glaubwürdigen Charakterdarstellungen und die in ihrer Art einmaligen Dialoge begeistern Leser und Kritiker immer

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Parallel Lines – 2

von am 1. April 2020 1 Kommentar

Von Horst Illmer

Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Der Inkontinenz-Unterwäsche“ (David Foster Wallace)

1921 / 1826 (The Who / Mary W. Shelley)

„Wir leben alle wie in einem kolossalen Roman“ behauptete Arno Schmidt 1972 in seinem lustspielhaft angelegten Science-Fiction-Opus DIE SCHULE DER ATHEISTEN – und wie meist ist ihm auch hier nur schwer zu widersprechen. Vor allem dann nicht, wenn man sich ein wenig in der speziell für unsere gegenwärtige Situation so unbestreitbar geeigneten Literatur des 19. Jahrhunderts umschaut.

Da fällt mir doch zuallererst das Werk der frühvollendeten Mary Wollstonecraft Shelley, geborene Godwin, ein, die nicht nur drei Männern in einem der bekanntesten literarischen Wettbewerbe die hohe Stirn bot, sondern mit zweien ihrer Romane zumindest in der englischsprachigen Literatur die Grundsteine für gleich zwei phantastische Genres legte: für die Science Fiction und die Post-Apokalypse.
Gemeint sind damit natürlich der allgemein bekannte Klassiker FRANKENSTEIN ODER DER MODERNE PROMETHEUS von 1818 (der erst 1912 eine erste deutsche Ausgabe erfuhr) und das weit weniger gewürdigte Buch THE LAST MAN, in dem Shelley 1826 über ein zukünftiges England schrieb, das von einer Pandemie heimgesucht und entvölkert wird (hier mussten deutschsprachige Leserinnen sogar bis 1982 warten, als im Bastei Lübbe Verlag dann mit VERNEY, DER LETZTE MENSCH eine erste, wenngleich noch gekürzte,
Übersetzung erschien, der 2016 eine ungekürzte Fassung unter dem Titel DER LETZTE MENSCH folgte).

Die bisher beste literarische Ausformung einer „Corona-Party“ stammt aus dem Jahr 1835. In der Erzählung „König Pest“ („King Pest“) zeigt uns der große amerikanische Dichter Edgar Allan Poe (oder wie er in Zamonien genannt wird: Perla La Gardeon) in einer zeitlos guten Geschichte, dass (Pest-)Plagen ein widerkehrendes Ereignis waren, sind und bleiben werden und wir jedes Mal aufs Neue in den Kampf ziehen müssen – und jedes Mal aufs Neue die Chance haben, den Sieg davonzutragen.
Durch ein stetes Steigern der Schrecken gelingt es Poe am Ende sogar seiner Todes-Allegorie eine sehr schwarze Komik zu verleihen. Sicher nicht Jedermanns Geschmack, aber ein Lehrstück in Sachen „Hoffnung“!

Eine komplett andere (und wesentlich entspanntere) Sichtweise auf die Welt im Allgemeinen und den Umgang mit Mikroorganismen im Besonderen hat H. G. Wells, der Engländer, der in seinen mehr als 150 Büchern praktisch jedes nur irgendwie denkbare Thema behandelte (ich glaube, Kochbücher hat er ausgelassen).
Wells, der seine Schriftstellerkarriere mit Artikeln und Kurzgeschichten für die Londoner Zeitungen und Magazine begann, nahm sich 1894 in „The Stolen Bacillus“ gleich mehrere, wohl auch damals schon virulente Themen vor: die Verbreitung von Seuchen, den Terrorismus durch Extremisten und den „Mad Scientist“, der gewollt oder ungewollt mit seiner Arbeit die Menschheit in Gefahr bringt. Allerdings entwickelt sich die Sache in „Der gestohlene Bazillus“ dann ganz anders als zuerst befürchtet. Der Versuch eines Anarchisten, einen Bazillus aus dem Labor eines Biologen zu stehlen, klappt zwar – und die sich anschließende Verfolgungsjagd mit mehreren Kutschen durch halb London hat Slapstick-Qualitäten – aber als der letztlich gestellte Überzeugungstäter den Inhalt des Reagenzglases trinkt, um als „lebende Bombe“ seine Mission einer Seuchenverbreitung doch noch zu erfüllen, stellt sich heraus, dass es sich um eine spezielle Züchtung des Bakteriologen handelt, die er zwar „Asiatische Cholera“ genannt hat, deren Wirkungen aber ganz andere sind als der martialische Name erwarten lässt …
Wer den Erfinder der ZEITMASCHINE, des UNSICHTBAREN und des KRIEGS DER WELTEN einmal ganz anders erleben will, der greife zu den MEISTERERZÄHLUNGEN (Diogenes) und lasse sich überraschen. Der frühe Wells (95 Prozent seiner Stories entstanden in den ersten zehn Jahren seiner Karriere) ist ideenreich, punktgenau, humorvoll und stilsicher. Ein Gegenprogramm zum allgemeinen Pessimismus.

Song: Alan Parsons Project – „A Dream Within a Dream“ (1976, vom Album TALES OF MYSTERY AND IMAGINATION)

Von Horst Illmer
Unsortierte Gedanken eines Literatur-DJs im „Jahr Der Inkontinenz-Unterwäsche“ (David Foster Wallace)
1921 / 1826 (The Who / Mary W. Shelley)
„Wir leben alle wie in einem kolossalen Roman“ behauptete Arno Schmidt 1972 in seinem lustspielhaft angelegten Science-Fiction-Opus DIE SCHULE DER ATHEISTEN – und wie meist ist ihm auch hier nur schwer zu widersprechen. Vor allem dann nicht, wenn man sich

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Lesetipps vom Literaturpapst

von am 1. April 2020 1 Kommentar

In seiner Sendung vom 29. März 2020 präsentierte unser lieber Freund, der bekannte Literaturkritiker Denis Scheck diesmal nicht seine gleichermaßen geliebte wie gefürchtete „Bestseller-Liste“ (bei der sich außer den jeweils „Betroffenen“ immer alle über die Titel freuen, die Scheck „in die Tonne“ wirft), sondern eine sehr „persönliche Top Ten“ von Büchern, mit denen es gelingen sollte, in diesen Zeiten einen „kühlen Kopf“ zu bewahren.

Allerdings konnte Denis Scheck es sich nicht verkneifen, auch diesmal einige Autoren zu „dissen“ – Sebastian Fitzek, Susanne Fröhlich und Paulo Coelho wanderten über „die (Rolltisch-)Planke“.

Dann jedoch folgte, ernsthaft, kenntnisreich und auf sehr persönliche Weise kommentiert, eine Auswahl von zehn Werken der Weltliteratur, die zu lesen (oder auch wieder zu lesen) Scheck empfahl und die hier in der Reihenfolge ihrer Präsentation einmal aufgelistet sind:

 

Albert Camus
DIE PEST

Dorothy Parker
DENN MEIN HERZ IST FRISCH GEBROCHEN (Gedichte)
THE PORTABLE DOROTHY PARKER (Gesammelte Prosa, englisch)

Charles M. Schulz
DIE PEANUTS

Giovanni Boccaccio
DAS DECAMERONE

Kenneth Grahame
DER WIND IN DEN WEIDEN

Marcel Proust
AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT

Arno Schmidt
SCHWARZE SPIEGEL

Thomas Mann
DER TOD IN VENEDIG

Cormac McCarthy
DIE STRASSE

Marlen Haushofer
DIE WAND

Die Begründungen kann man sich in der ARD-Mediathek unter „Druckfrisch“ ansehen (ebenso natürlich den Rest der Sendung), die Bücher beim „Local Book Dealer“ bestellen.

Horst Illmer

In seiner Sendung vom 29. März 2020 präsentierte unser lieber Freund, der bekannte Literaturkritiker Denis Scheck diesmal nicht seine gleichermaßen geliebte wie gefürchtete „Bestseller-Liste“ (bei der sich außer den jeweils „Betroffenen“ immer alle über die Titel freuen, die Scheck „in die Tonne“ wirft), sondern eine sehr „persönliche Top Ten“ von Büchern, mit denen es gelingen sollte, in diesen Zeiten einen

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