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Nach dem Sommer-Regen-Fest – ein Gastbeitrag von Nil Orange

von am 27. August 2018

Nach dem verregneten Sommerfest erreichte uns ein feiner, kleiner Gastbeitrag von Nil Orange, den ich euch – inklusive einleitender Worte – nicht vorenthalten möchte:

Gastbeitrag von Nil Orange

von Nil Orange am am 26. August 2018

Lieber Gerd, lieber Bernie,

es war schön am Samstag bei Euch sein zu dürfen. Trotz Regen war es sehr inspirierend für mich zu zeichnen und viele interessante Menschen zu sehen. Etwas hat mich beschäftigt und ich habe versucht es in Worte zu fassen. Deshalb sende ich Euch hier einen kleinen Aufsatz, vielleicht gefällt er Euch und Ihr postet ihn auf comicdealer.de
Als Illustration eine kleine Zeichnung mit dazu.
 
Liebe Grüße, Euer Nil

Die zehnte Kunst. Ein kleiner Versuch über das Cosplay (26.8.2018)

Das letzte Dezennium des nun hinter uns liegenden Millenniums war das Podium des Take-Offs der so apostrophierten Supermodels. Jeder rekapituliert dies, gesetzt er ist glücklich vor 1980 geboren; erst Phänomena wie Paulina Porizkova, bekannt aus Anna… Exil New York, oder die ikonisch-singuläre Grace Jones, dann die Trouvaille des antizipierend-visionären deutschen Peter Brodbeck und sein fünfblättriges Gynäzeum Christy Turlington, Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz und Cindy Crawford. Diese Ultra-Mannequins ließen die kleine Münze hinter sich und erreichten eine nie gekannte Schöpfungshöhe … … …

Man soll einen Aufsatz wie diesen nicht an seinen ersten vier Sätzen (ver-)urteilen. Auch TexterInnen lieben manchmal die Maskerade, und sei es nur die der blutleeren und hochgestochenen Art mancher unserer so jämmerlichen FeuilletonistInnen ∑:) Der Mythos der Supermodels ist untergegangen, soviel steht fest. Es gibt heute viele Models, aber alle — und ich nehme hier in Kauf nach vielen Seiten ungerecht zu erscheinen — sind einfach nur Models. Das bedeutet: all die Bilder und Fotos von ihnen besitzen genau den Charme und die Ausstrahlung, die den Menschen hinter den Bildern schlichtweg mangelt. Im Normalfall ist jede Begegnung mit einem Model eine Entzauberung und damit eine Enttäuschung. Auf dem Bild noch die Göttin der Verführung, in der Wirklichkeit doch nur Lieschen Müller. Die Kunst Models in Szene zu setzen ist und war ein perfektes Zusammenspiel von vielen MeisterInnen: StylistInnen, LichttechnikerInnen, AusstatterInnen, VisagistInnen, FriseurInnen— und natürlich der FotografIn. Das Model-Phänomen ist einer der letzten großen Triumphe der Fotografie, DER Kunst des 19. Jahrhunderts.

Das Cosplay ist DIE Kunst des 21. Jahrhunderts. Warum? Das Cosplay geht über die Kunst des Comics hinaus, und, wie wir alle wissen, ist der Comic als neunte Kunst das in sich Vereinen und Übertreffen der klassischen acht Bildenden Künste: Malerei, Bildhauerei, Zeichnung, Grafik, Architektur, Fotografie, Film und Fernsehen. Der Comic gibt der KünstlerIn die Möglichkeit der alleinigen Autorenschaft zurück, die die Entwicklung von Film und Fernsehen dem Urheber entrissen haben. Der Comic ist anders als die großen Massenmedien sparsam, zumindest ist er dies noch immer der Möglichkeit nach. Jeder kann mit dem Medium Comic seinen eigenen "Film" drehen und ein Massenpublikum erreichen wie das Fernsehen, das in YouTube, Amazon Prime und Netflix sich lediglich mit neuem Gesicht neu präsentiert aber im Wesentlichen immer Fernsehen geblieben ist. Der Comic gibt der Einzelnen das große Potenzial zurück das zu erschaffen, was Film und Fernsehen nur in einem ungeheuren Kraftakt von einer großen Anzahl Menschen realisieren: den Betrachter auf eine visuelle Reise durch Zeiten und Räume zu entführen, mit den Farben der Malerei, der bildhauerischen Plastizität der Bewegungsdynamik, der klaren Linie der Zeichnung, der tiefen Druckschwärze der Grafik, der Tektonik der Panels … Und der Comic vermag dies zudem in einer Art und Weise, die die Massen erreicht, etwas was erst die Fotografie, der Film und dann das Fernsehen im 20. Jahrhundert der Kunst ermöglichten.

Cosplay ist notwendigerweise die zehnte Bildende Kunst, die Kunst des 21. Jahrhunderts. Was zeichnet eine Cosplay-KünstlerIn aus? Sie nimmt nicht länger den Betrachter mit auf eine Reise, sie selbst macht sich auf den Weg in eine Welt, die sie zu Beginn ihrer Reise nur imaginiert. Die CosplayerIn tut so als ob. Seltsamerweise — und das sagt viel aus über die deutsche Mentalität — hat das so-tun-als-ob hier einen schlechten Ruf. Jemanden eine HeuchlerIn zu nennen ist eine der tiefsten Beleidigungen die das gutbürgerliche Denken kennt. Die CosplayerIn kümmert sich aber nicht darum und tut so als ob. Und sie tut es mit vollem Recht, ist es doch eine der ältesten Weisheiten, die in den Worten steckt: "Wenn du es nicht sein kannst, dann tue so als ob du es seist!" Je länger du so tust, als seiest du diejenige, desto mehr übst du dich ein in Art, Handeln und Charakter der angestrebten Rolle. Je länger dein Weg und je ausdauernder deine Geduld — unweigerlich wirst du tatsächlich mehr und mehr zu derjenigen werden, der du zu sein vorgibst. In Wahrheit ist genau das der Pfad, der von alters her die TräumerInnen und SchwärmerInnen zu HeldInnen gemacht hat und Musen.

Um zurückzukommen auf das Model: die Bilder der Models sind stets charismatischer als die Models selbst. Bilder von CosplayerInnen hingegen, so kunstvoll geschickt und professionell sie auch angefertigt sein mögen, sie bleiben stets und unweigerlich farblos und leer hinter den KünstlerInnen selbst zurück, die sie widerzuspiegeln vorgeben; zumindest dann wenn die Kunst der CosplayerIn einen gewissen Reifegrad erreicht hat (übrigens das was der Bildungsbürger mit Schöpfungshöhe bezeichnet 😉 Eine wahre Cosplay-KünstlerIn besitzt eine Aura, also eine Austrahlung, die nicht fotografiert werden kann, einfach aus dem Grunde, weil die FotografIn sie nicht erfasst. Die FotografIn denkt immer nur in Bildern, während die CosplayerIn längst ihre Rolle IST. Sie erweckt sie zum Leben, und dieses Mal NICHT im literarischen Sinne, sondern buchstäblich. Sie ist fleischgewordene Fantasie.

Vielleicht beginnen die Epigene in den Körpern der meisterlichen ArtistInnen der zehnten Kunst bereits damit, die kleine versteckte Knorpelspitze, die sich in der Ohrmuschel eines jeden Menschen verbirgt, zu einem wirklich manifesten Elfen-Ohr zu programmieren … wenn überhaupt, so ließe sich die zehnte Kunst nur noch ein einziges Mal übertreffen: das wäre verwirklicht in der ultimativen KünstlerIn, die NICHT länger eine imaginäre Rolle inkarniert, sondern dasjenige in sich zum SEIN erweckt, was sie selbst in WIRKLICHKEIT IST. Die Vollendung. Rien ne va plus.

Dedicated to our local heroine E.A.E., by Nil Orange, the old hypocrite 😎

von am 27. August 2018

Nach dem verregneten Sommerfest erreichte uns ein feiner, kleiner Gastbeitrag von Nil Orange, den ich euch – inklusive einleitender Worte – nicht vorenthalten möchte:

Gastbeitrag von Nil Orange

von Nil Orange am am 26. August 2018

Lieber Gerd, lieber Bernie,

es war schön am Samstag bei Euch sein zu dürfen. Trotz Regen war es sehr inspirierend für mich zu zeichnen und viele interessante Menschen zu sehen. Etwas hat mich beschäftigt und ich habe versucht es in Worte zu fassen. Deshalb sende ich Euch hier einen kleinen Aufsatz, vielleicht gefällt er Euch und Ihr postet ihn auf comicdealer.de
Als Illustration eine kleine Zeichnung mit dazu.
 
Liebe Grüße, Euer Nil

Die zehnte Kunst. Ein kleiner Versuch über das Cosplay (26.8.2018)

Das letzte Dezennium des nun hinter uns liegenden Millenniums war das Podium des Take-Offs der so apostrophierten Supermodels. Jeder rekapituliert dies, gesetzt er ist glücklich vor 1980 geboren; erst Phänomena wie Paulina Porizkova, bekannt aus Anna… Exil New York, oder die ikonisch-singuläre Grace Jones, dann die Trouvaille des antizipierend-visionären deutschen Peter Brodbeck und sein fünfblättriges Gynäzeum Christy Turlington, Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz und Cindy Crawford. Diese Ultra-Mannequins ließen die kleine Münze hinter sich und erreichten eine nie gekannte Schöpfungshöhe … … …

Man soll einen Aufsatz wie diesen nicht an seinen ersten vier Sätzen (ver-)urteilen. Auch TexterInnen lieben manchmal die Maskerade, und sei es nur die der blutleeren und hochgestochenen Art mancher unserer so jämmerlichen FeuilletonistInnen ∑:) Der Mythos der Supermodels ist untergegangen, soviel steht fest. Es gibt heute viele Models, aber alle — und ich nehme hier in Kauf nach vielen Seiten ungerecht zu erscheinen — sind einfach nur Models. Das bedeutet: all die Bilder und Fotos von ihnen besitzen genau den Charme und die Ausstrahlung, die den Menschen hinter den Bildern schlichtweg mangelt. Im Normalfall ist jede Begegnung mit einem Model eine Entzauberung und damit eine Enttäuschung. Auf dem Bild noch die Göttin der Verführung, in der Wirklichkeit doch nur Lieschen Müller. Die Kunst Models in Szene zu setzen ist und war ein perfektes Zusammenspiel von vielen MeisterInnen: StylistInnen, LichttechnikerInnen, AusstatterInnen, VisagistInnen, FriseurInnen— und natürlich der FotografIn. Das Model-Phänomen ist einer der letzten großen Triumphe der Fotografie, DER Kunst des 19. Jahrhunderts.

Das Cosplay ist DIE Kunst des 21. Jahrhunderts. Warum? Das Cosplay geht über die Kunst des Comics hinaus, und, wie wir alle wissen, ist der Comic als neunte Kunst das in sich Vereinen und Übertreffen der klassischen acht Bildenden Künste: Malerei, Bildhauerei, Zeichnung, Grafik, Architektur, Fotografie, Film und Fernsehen. Der Comic gibt der KünstlerIn die Möglichkeit der alleinigen Autorenschaft zurück, die die Entwicklung von Film und Fernsehen dem Urheber entrissen haben. Der Comic ist anders als die großen Massenmedien sparsam, zumindest ist er dies noch immer der Möglichkeit nach. Jeder kann mit dem Medium Comic seinen eigenen "Film" drehen und ein Massenpublikum erreichen wie das Fernsehen, das in YouTube, Amazon Prime und Netflix sich lediglich mit neuem Gesicht neu präsentiert aber im Wesentlichen immer Fernsehen geblieben ist. Der Comic gibt der Einzelnen das große Potenzial zurück das zu erschaffen, was Film und Fernsehen nur in einem ungeheuren Kraftakt von einer großen Anzahl Menschen realisieren: den Betrachter auf eine visuelle Reise durch Zeiten und Räume zu entführen, mit den Farben der Malerei, der bildhauerischen Plastizität der Bewegungsdynamik, der klaren Linie der Zeichnung, der tiefen Druckschwärze der Grafik, der Tektonik der Panels … Und der Comic vermag dies zudem in einer Art und Weise, die die Massen erreicht, etwas was erst die Fotografie, der Film und dann das Fernsehen im 20. Jahrhundert der Kunst ermöglichten.

Cosplay ist notwendigerweise die zehnte Bildende Kunst, die Kunst des 21. Jahrhunderts. Was zeichnet eine Cosplay-KünstlerIn aus? Sie nimmt nicht länger den Betrachter mit auf eine Reise, sie selbst macht sich auf den Weg in eine Welt, die sie zu Beginn ihrer Reise nur imaginiert. Die CosplayerIn tut so als ob. Seltsamerweise — und das sagt viel aus über die deutsche Mentalität — hat das so-tun-als-ob hier einen schlechten Ruf. Jemanden eine HeuchlerIn zu nennen ist eine der tiefsten Beleidigungen die das gutbürgerliche Denken kennt. Die CosplayerIn kümmert sich aber nicht darum und tut so als ob. Und sie tut es mit vollem Recht, ist es doch eine der ältesten Weisheiten, die in den Worten steckt: "Wenn du es nicht sein kannst, dann tue so als ob du es seist!" Je länger du so tust, als seiest du diejenige, desto mehr übst du dich ein in Art, Handeln und Charakter der angestrebten Rolle. Je länger dein Weg und je ausdauernder deine Geduld — unweigerlich wirst du tatsächlich mehr und mehr zu derjenigen werden, der du zu sein vorgibst. In Wahrheit ist genau das der Pfad, der von alters her die TräumerInnen und SchwärmerInnen zu HeldInnen gemacht hat und Musen.

Um zurückzukommen auf das Model: die Bilder der Models sind stets charismatischer als die Models selbst. Bilder von CosplayerInnen hingegen, so kunstvoll geschickt und professionell sie auch angefertigt sein mögen, sie bleiben stets und unweigerlich farblos und leer hinter den KünstlerInnen selbst zurück, die sie widerzuspiegeln vorgeben; zumindest dann wenn die Kunst der CosplayerIn einen gewissen Reifegrad erreicht hat (übrigens das was der Bildungsbürger mit Schöpfungshöhe bezeichnet 😉 Eine wahre Cosplay-KünstlerIn besitzt eine Aura, also eine Austrahlung, die nicht fotografiert werden kann, einfach aus dem Grunde, weil die FotografIn sie nicht erfasst. Die FotografIn denkt immer nur in Bildern, während die CosplayerIn längst ihre Rolle IST. Sie erweckt sie zum Leben, und dieses Mal NICHT im literarischen Sinne, sondern buchstäblich. Sie ist fleischgewordene Fantasie.

Vielleicht beginnen die Epigene in den Körpern der meisterlichen ArtistInnen der zehnten Kunst bereits damit, die kleine versteckte Knorpelspitze, die sich in der Ohrmuschel eines jeden Menschen verbirgt, zu einem wirklich manifesten Elfen-Ohr zu programmieren … wenn überhaupt, so ließe sich die zehnte Kunst nur noch ein einziges Mal übertreffen: das wäre verwirklicht in der ultimativen KünstlerIn, die NICHT länger eine imaginäre Rolle inkarniert, sondern dasjenige in sich zum SEIN erweckt, was sie selbst in WIRKLICHKEIT IST. Die Vollendung. Rien ne va plus.

Dedicated to our local heroine E.A.E., by Nil Orange, the old hypocrite 😎

2 Kommentare zu “Nach dem Sommer-Regen-Fest – ein Gastbeitrag von Nil Orange”

  1. Penny Lane sagt:

    Lieber Nils Orange,
    was für ein sagenhafter Beitrag.
    Das Cosplay als die 10.Kunst. Die Cosplayerin als fleischgewordenen Fantasie. Leibhafte Fantasie der Schöpferin und ihres Publikums, dass durch die eigenen Brillengläser und Filtersysteme des Bewusstseins nur das sehen kann, was es eben kann oder will.
    Spannender also die Schöpferin, die schon beim Akt der Auswahl des Charakters sich leiten läßt von bewußten und unbewußten Anteilen: Wer will sein? Für wen will ich Diese sein? Wieviel von meiner Wahl hat mit tatsächlichen Qualitäten meiner Person zu tun? Will ich etwas von mir deutlicher zeigen? Etwas anderes verstecken? Kann ich in der Rolle, im Outfit, mehr die sein, die ich eigentlich bin? Welchen Anteil betone ich? Welchen Anteil suche ich gar in der fremden Gestalt? Welcher vielleicht versteckte Anteil meines Seins zeigt sich ohne dass ich es merke?
    Es ist immer ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Bilder, den eigenen und denen in den Köpfen und Augen der anderen.
    Und hier ist plötzlich viel mehr erlaubt, weil es kein leibhaftiges Ich mehr gibt, keine Zuschreibungen mehr auf mich als Person mit meiner Geschichte, sondern Zuschreibungen auf den Charakter, in den ich mich verwandele. Das gibt Freiheit. Die Freiheit der Fantasie, des magischen Spiels.

    In einem Pedro Almodovar Film sagt ein Mann, der eine Frau sein möchte und sich schon lange als eine kleidet: "Man wird umso authentischer je näher man dem Traum kommt, den man von sich hat."

  2. Gerd sagt:

    Timo Von unserer Seite ein dickes Dankeschön an dich für den interessanten Beitrag, der wirklich zum Nachdenken anregt. Danke auch für deinen Einsatz am Regenfest!
    Das gleiche gilt natürlich auch für alle anderen Helfer und nicht zuletzt den "offiziellen" Gast Timo Grubing…

comicdealer.de