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Adventskalender 2023 T-24: Immer nach Hause

von am 30. November 2023

GerdHeute beginnt unser alljährlicher Adventskalender. Zusätzlich zu unseren "normalen" Rezensionen gibt es bis Heilig Abend täglich einen Tipp für eure Wunschzettel oder eine Idee zum verschenken. Ergänzt werden diese Beiträge durcch unsere Podcasts, die in der Adventszeit auch jeweils um diese Themen kreisen. Ideen und Tipps fürs Weihnachtsfest. Der erste Beitrag in diesem Jahr bildet gleichzeitig den Abschluss für Horsts Serie über die erste Welle von Veröffentlichungen aus einem neuen Verlag mit einem neuen Konzept. Horst hat bereits vor dem Adventskalender begonnen, euch die Werke des Carcosa Verlages vorzustellen. Mit dem heutigen Artikel schließt er diese Serie ab und bespricht gleichzeitig sein ganz persönliches Highlight aus diesem Programm. Ein würdiger Einstieg in unsere Adventstipps:

Ursula K. Le Guin
IMMER NACH HAUSE. Roman.
Deutsche Erstausgabe
Übersetzt von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch
Mit Illustrationen von Margaret Chodos-Irvine und Landkarten der Autorin
(ALWAYS COMING HOME / 1985/2019)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 859 S.
ISBN 978-3-910914-00-1
Hardcover / 48,00 Euro (Subskriptionspreis bis 1.5.2024, danach 58,00 Euro)

Vor mir liegt ein schon äußerlich gewichtiges Buch. Der freundlich hellbraune Einband trägt in sehr klarer Schrift den Namen der Autorin und den Titel IMMER NACH HAUSE. Dazwischen nimmt eine Illustration aus dem Hause benSwerk prominent ihren Platz ein.

Wer das Hardcover in die Hand nimmt und die 850 Seiten durch die Finger laufen lässt, erblickt ein- und mehrspaltig bedruckte Seiten, Bilder, Karten, Tabellen; wer Stichproben liest, findet Prosa, Gedichte, Stammbäume, sogar ein Wörterbuch.

Wer aber, wie das bei einem Roman ja üblich ist, von vorne beginnt, liest die Geschichte vom Volk der Kesh und wie diese Leute in der Zukunft versucht haben werden, mit der Welt zurecht zu kommen, die wir heute Lebenden ihnen hinterlassen. Die Kesh sind nicht isoliert, um ihr Siedlungsgebiet im Na-Tal (im dann ehemaligen Nordkalifornien gelegen) herum gibt es andere Stämme, Völker, Leute – und als gleichberechtigten Protagonisten die Natur.

Das Leben unserer Nachfahren wird uns hauptsächlich von Erzählstein näher gebracht, einer Kesh-Frau, die aus eigenem Entschluss fortgeht von ihren Leuten, die viel erlebt auf ihrer Reise – und am Ende dann doch für „immer nach Hause“ kommt.

Zusätzlich hat das Buch mit Pandora, der von Fernher gekommenen Sammlerin, eine allwissende Kommentatorin, deren Einlassungen wir das erzählerische Raum-Zeit-Koordinatennetz ebenso verdanken wie die übrigen Geschichten der Kesh, ihre Theaterstücke, ihre Kunstwerke, die Beschreibungen der Riten und Tänze, der Hütten und Plätze, der Tiere und Sträucher, der Jahreszeiten und Umweltgefahren, all der Dinge, die wir wissen wollen, um unser Bild dieser letztlich utopischen Gesellschaft zu vervollständigen.

(Wobei der Begriff »utopisch« im a-historischen Sinn gebraucht wird, da ja gerade die für eine Utopie typische Insel-Situation hier nicht gegeben ist. Es handelt sich vielmehr um Le Guins Vision einer möglichen Lebensweise für Leute, die im Einklang mit ihrer Welt sind.)

Aus all diesen Details ergibt sich ein überaus stimmiges, immer klarer und bunter werdendes Bild einer Gesellschaft, die sich von der unseren in vielen Punkten unterscheidet, von Le Guin aber mit so viel Mitgefühl und Empathie geschildert wird, dass wir diese Unterschiede ganz oft vergessen und hinein tauchen in ein überaus reiches und lebenswertes Dasein. Es gibt nur wenige Hinweise auf die weit zurückliegenden Ereignisse und was seither geschah oder welche „Vergangenheits-Technik“ noch in Gebrauch ist, es empfiehlt sich also ein langsames und aufmerksames Lesen.

Ja, man muss sein Gehirn schon einschalten bei der Lektüre dieses Buches, aber wer bereits andere Werke von Le Guin gelesen hat, weiß, dass das kein Problem darstellt, denn beim Lesen ihrer Texte aktiviert sich das Denken automatisch. Wer jemals in FREIE GEISTER oder DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT versunken ist, weiß zudem, dass dieses „Selbstdenken“ kein Hindernis darstellt, für das herzerwärmende Gefühl, mit einer lieben Freundin im Gespräch zu sein. Am Ende schließen wir das Buch mit einem zufriedenen, dankbaren, vielleicht sogar glücklichen Lächeln im Gesicht.

Dass dies so ist, dass diese Ausgabe von IMMER NACH HAUSE in der vorliegenden Form tatsächlich so gelungen ist, verdankt sich gleich mehreren glücklichen Zufällen. Zum einen konnte Le Guin vor einigen Jahren ihr Opus Magnum nochmals durchsehen und deutlich erweitern. Zum anderen gelang es, mit Karen Nölle als literarische Übersetzerin, Helmut W. Pesch als Linguist und Matthias Fersterer als an Umweltthemen und Mythologie interessierter Verleger und Übersetzer ein Team zusammenzustellen, wie es für dieses Buch nicht optimaler hätte sein können. Mit welchen Herausforderungen die Übersetzerriege konfrontiert war und auf welch stimmig-kreative Lösungen sie dafür kamen, zeigt beispielhaft bereits der erste Satz:

  • »Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.« (S. 13)

Hier zeigt die Autorin auf, was sie mit „Zukunftsarchäologie“ meint: eine in die Zukunft verlegte Betrachtung bereits Geschichte gewordener Ereignisse; echte, literarisch ausgefeilte Science Fiction. Auch für die Übersetzung des Roman-Titels ALWAYS COMING HOME gab Le Guin den entscheidenden Hinweis, handelt es sich doch um ein englischsprachiges Zitat aus dem Romanfragment HEINRICH VON OFTERDINGEN von Novalis, das im deutschen Originaltext „immer nach Hause“ lautet. Gemeinsam konnten die Übersetzer*innen alle durch das Original aufgeworfenen Fragen klären und so diese nicht genug zu lobende deutsche Fassung erstellen.

Dass wir diese herrlich fließende und dabei gleichzeitig wohldurchdachte und intelligent konstruierte Prosa nun endlich auch in unserer Muttersprache lesen dürfen, macht IMMER NACH HAUSE nicht zum Buch des Jahres, sondern zum Buch des Jahrzehnts!

Horst Illmer

GerdUnd noch eine interessante Ergänzung zu diesem Artikel. Ich habe diesen Artikel von Horst zusammen mit einer weitergeleiteten e-mail bekommen. Aus dem Hause "Memoranda Verlag" (welcher das Imprint Carcosa Verlag mit betreut) von Hardy Kettlitz persönlich (am Vorabend des Sendetermins). Aktuell ist die Sendung in der Mediathek zu finden. Den Inhalt dieser e-mail wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten:

"Hallo ihr Lieben,

nur zur Info, falls ihr am Sonntag gegen 23:35 Uhr noch nichts vorhabt:
Denis Scheck stellt in DRUCKFRISCH (ARD) unser Buch „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin vor.
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/sendung-vom-19-11-2023-104.html
Unser Lieblingssatz:
»›Immer nach Hause‹ hat das Potenzial, zu einem ›Herrn der Ringe‹ einer ökologisch alarmierten Generation zu werden.«

Herzliche Grüße
Hardy."

 

von am 30. November 2023

GerdHeute beginnt unser alljährlicher Adventskalender. Zusätzlich zu unseren "normalen" Rezensionen gibt es bis Heilig Abend täglich einen Tipp für eure Wunschzettel oder eine Idee zum verschenken. Ergänzt werden diese Beiträge durcch unsere Podcasts, die in der Adventszeit auch jeweils um diese Themen kreisen. Ideen und Tipps fürs Weihnachtsfest. Der erste Beitrag in diesem Jahr bildet gleichzeitig den Abschluss für Horsts Serie über die erste Welle von Veröffentlichungen aus einem neuen Verlag mit einem neuen Konzept. Horst hat bereits vor dem Adventskalender begonnen, euch die Werke des Carcosa Verlages vorzustellen. Mit dem heutigen Artikel schließt er diese Serie ab und bespricht gleichzeitig sein ganz persönliches Highlight aus diesem Programm. Ein würdiger Einstieg in unsere Adventstipps:

Ursula K. Le Guin
IMMER NACH HAUSE. Roman.
Deutsche Erstausgabe
Übersetzt von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch
Mit Illustrationen von Margaret Chodos-Irvine und Landkarten der Autorin
(ALWAYS COMING HOME / 1985/2019)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 859 S.
ISBN 978-3-910914-00-1
Hardcover / 48,00 Euro (Subskriptionspreis bis 1.5.2024, danach 58,00 Euro)

Vor mir liegt ein schon äußerlich gewichtiges Buch. Der freundlich hellbraune Einband trägt in sehr klarer Schrift den Namen der Autorin und den Titel IMMER NACH HAUSE. Dazwischen nimmt eine Illustration aus dem Hause benSwerk prominent ihren Platz ein.

Wer das Hardcover in die Hand nimmt und die 850 Seiten durch die Finger laufen lässt, erblickt ein- und mehrspaltig bedruckte Seiten, Bilder, Karten, Tabellen; wer Stichproben liest, findet Prosa, Gedichte, Stammbäume, sogar ein Wörterbuch.

Wer aber, wie das bei einem Roman ja üblich ist, von vorne beginnt, liest die Geschichte vom Volk der Kesh und wie diese Leute in der Zukunft versucht haben werden, mit der Welt zurecht zu kommen, die wir heute Lebenden ihnen hinterlassen. Die Kesh sind nicht isoliert, um ihr Siedlungsgebiet im Na-Tal (im dann ehemaligen Nordkalifornien gelegen) herum gibt es andere Stämme, Völker, Leute – und als gleichberechtigten Protagonisten die Natur.

Das Leben unserer Nachfahren wird uns hauptsächlich von Erzählstein näher gebracht, einer Kesh-Frau, die aus eigenem Entschluss fortgeht von ihren Leuten, die viel erlebt auf ihrer Reise – und am Ende dann doch für „immer nach Hause“ kommt.

Zusätzlich hat das Buch mit Pandora, der von Fernher gekommenen Sammlerin, eine allwissende Kommentatorin, deren Einlassungen wir das erzählerische Raum-Zeit-Koordinatennetz ebenso verdanken wie die übrigen Geschichten der Kesh, ihre Theaterstücke, ihre Kunstwerke, die Beschreibungen der Riten und Tänze, der Hütten und Plätze, der Tiere und Sträucher, der Jahreszeiten und Umweltgefahren, all der Dinge, die wir wissen wollen, um unser Bild dieser letztlich utopischen Gesellschaft zu vervollständigen.

(Wobei der Begriff »utopisch« im a-historischen Sinn gebraucht wird, da ja gerade die für eine Utopie typische Insel-Situation hier nicht gegeben ist. Es handelt sich vielmehr um Le Guins Vision einer möglichen Lebensweise für Leute, die im Einklang mit ihrer Welt sind.)

Aus all diesen Details ergibt sich ein überaus stimmiges, immer klarer und bunter werdendes Bild einer Gesellschaft, die sich von der unseren in vielen Punkten unterscheidet, von Le Guin aber mit so viel Mitgefühl und Empathie geschildert wird, dass wir diese Unterschiede ganz oft vergessen und hinein tauchen in ein überaus reiches und lebenswertes Dasein. Es gibt nur wenige Hinweise auf die weit zurückliegenden Ereignisse und was seither geschah oder welche „Vergangenheits-Technik“ noch in Gebrauch ist, es empfiehlt sich also ein langsames und aufmerksames Lesen.

Ja, man muss sein Gehirn schon einschalten bei der Lektüre dieses Buches, aber wer bereits andere Werke von Le Guin gelesen hat, weiß, dass das kein Problem darstellt, denn beim Lesen ihrer Texte aktiviert sich das Denken automatisch. Wer jemals in FREIE GEISTER oder DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT versunken ist, weiß zudem, dass dieses „Selbstdenken“ kein Hindernis darstellt, für das herzerwärmende Gefühl, mit einer lieben Freundin im Gespräch zu sein. Am Ende schließen wir das Buch mit einem zufriedenen, dankbaren, vielleicht sogar glücklichen Lächeln im Gesicht.

Dass dies so ist, dass diese Ausgabe von IMMER NACH HAUSE in der vorliegenden Form tatsächlich so gelungen ist, verdankt sich gleich mehreren glücklichen Zufällen. Zum einen konnte Le Guin vor einigen Jahren ihr Opus Magnum nochmals durchsehen und deutlich erweitern. Zum anderen gelang es, mit Karen Nölle als literarische Übersetzerin, Helmut W. Pesch als Linguist und Matthias Fersterer als an Umweltthemen und Mythologie interessierter Verleger und Übersetzer ein Team zusammenzustellen, wie es für dieses Buch nicht optimaler hätte sein können. Mit welchen Herausforderungen die Übersetzerriege konfrontiert war und auf welch stimmig-kreative Lösungen sie dafür kamen, zeigt beispielhaft bereits der erste Satz:

  • »Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.« (S. 13)

Hier zeigt die Autorin auf, was sie mit „Zukunftsarchäologie“ meint: eine in die Zukunft verlegte Betrachtung bereits Geschichte gewordener Ereignisse; echte, literarisch ausgefeilte Science Fiction. Auch für die Übersetzung des Roman-Titels ALWAYS COMING HOME gab Le Guin den entscheidenden Hinweis, handelt es sich doch um ein englischsprachiges Zitat aus dem Romanfragment HEINRICH VON OFTERDINGEN von Novalis, das im deutschen Originaltext „immer nach Hause“ lautet. Gemeinsam konnten die Übersetzer*innen alle durch das Original aufgeworfenen Fragen klären und so diese nicht genug zu lobende deutsche Fassung erstellen.

Dass wir diese herrlich fließende und dabei gleichzeitig wohldurchdachte und intelligent konstruierte Prosa nun endlich auch in unserer Muttersprache lesen dürfen, macht IMMER NACH HAUSE nicht zum Buch des Jahres, sondern zum Buch des Jahrzehnts!

Horst Illmer

GerdUnd noch eine interessante Ergänzung zu diesem Artikel. Ich habe diesen Artikel von Horst zusammen mit einer weitergeleiteten e-mail bekommen. Aus dem Hause "Memoranda Verlag" (welcher das Imprint Carcosa Verlag mit betreut) von Hardy Kettlitz persönlich (am Vorabend des Sendetermins). Aktuell ist die Sendung in der Mediathek zu finden. Den Inhalt dieser e-mail wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten:

"Hallo ihr Lieben,

nur zur Info, falls ihr am Sonntag gegen 23:35 Uhr noch nichts vorhabt:
Denis Scheck stellt in DRUCKFRISCH (ARD) unser Buch „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin vor.
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/sendung-vom-19-11-2023-104.html
Unser Lieblingssatz:
»›Immer nach Hause‹ hat das Potenzial, zu einem ›Herrn der Ringe‹ einer ökologisch alarmierten Generation zu werden.«

Herzliche Grüße
Hardy."

 

1 Kommentar zu “Adventskalender 2023 T-24: Immer nach Hause”

  1. Oliver L. sagt:

    Den brauche ich dann wohl auch … 😀

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