Horsts Bibliothek

Wer könnte besser geeignet sein, über Bücher zu schreiben, als Horst Illmer. Autor des Magazins Phantastisch! Weggefährte meines Vaters und Herausgeber einer Bibliographie über phantastische Literatur.

Adventskalender 2024 T-23: Jagannath

von am 1. Dezember 2024 noch kein Kommentar

  • Karin Tidbeck
    JAGANNATH. Erzählungen.
    Ü: Hannes Riffel, Nachwort: Karin Tidbeck
    (JAGANNATH / 2012)
    Wittenberge, Carcosa, 2024, 219 S.
    ISBN 978-3-910914-22-3 / 18,00 Euro
    Hardcover

Das Herbstprogramm von Carcosa ist mit dem hübschen Hardcoverbändchen JAGANNATH, einer Kurzgeschichtensammlung von Karin Tidbeck, gestartet.

Tidbeck, 1977 in Stockholm geboren und heute in Malmö lebend, schreibt auf Schwedisch und Englisch, besuchte einen der berühmten Clarion Science-Fiction-Writers Workshops, erhielt 2013 den William L. Crawford Fantasy Award als beste Nachwuchskünstler*in und beeindruckte mit ihren Texten u. a. Ursula K. Le Guin, was sicherlich einer der Gründe war, warum JAGANNATH nun von Hannes Riffel übersetzt auf Deutsch erhältlich ist.

Ein weiterer – und sehr guter – Grund sind die Erzählungen selbst. Obwohl viele der Stories in den USA in Magazinen veröffentlicht wurden (z. B. in WEIRD TALES), lesen sie sich eher wie europäische Märchen oder phantastische Geschichten aus Schweden und weniger wie typisch angloamerikanische Science Fiction oder Fantasy. Tidbeck schreibt eindeutig in der Tradition Hans Christian Andersens, Franz Kafkas oder Hanns Heinz Ewers’. Vor allem dessen Grotesken aus dem frühen 20. Jahrhundert kamen mir in den Sinn, als ich von sich selbst verzehrenden Tanten und Nichten las, von Menschen, die sich in Maschinen verlieben, oder von Beamten, die sich für ihre Behörden buchstäblich „aufarbeiten“.

Keine einzige dieser Geschichten erfüllt irgendwelche vorgefassten Erwartungen, jede ist einzigartig und sensationell innovativ. 13 Stories auf 217 Seiten – es gibt viel zu entdecken auf dem Planeten Tidbeck.

Horst Illmer

  • Karin Tidbeck
    JAGANNATH. Erzählungen.
    Ü: Hannes Riffel, Nachwort: Karin Tidbeck
    (JAGANNATH / 2012)
    Wittenberge, Carcosa, 2024, 219 S.
    ISBN 978-3-910914-22-3 / 18,00 Euro
    Hardcover

Das Herbstprogramm von Carcosa ist mit dem hübschen Hardcoverbändchen JAGANNATH, einer Kurzgeschichtensammlung von Karin Tidbeck, gestartet.

Tidbeck, 1977 in Stockholm geboren und heute in Malmö lebend, schreibt auf Schwedisch und Englisch, besuchte einen der berühmten Clarion Science-Fiction-Writers Workshops, erhielt 2013 den William L.

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Parts Per Million – Gewalt ist eine Option

von am 20. November 2024 noch kein Kommentar

  • Theresa Hannig
    PARTS PER MILLION – GEWALT IST EINE OPTION. Roman.
    Frankfurt, S. Fischer/TOR, 2024, 368 S.
    ISBN 978-3-596-70891-8 / 18,00 Euro
    Klappenbroschur

Es gibt Geschichten, die müssen einfach immer wieder erzählt werden. Manchmal nur deswegen, weil das Thema unausschöpflich ist wie Liebe, Leben oder Tod, aber es gibt auch brennend Aktuelles, dringlich Aufblitzendes, sich unbarmherzig Aufdrängendes, das in eine literarische Form gebracht werden will.

Dazu gehört momentan (und ob wir ihn jemals wieder loswerden, ist mehr als fraglich) der Klimawandel. In den letzten Jahren sind hierzu bereits, neben ungezählten Sachtexten, auch einige Science-Fiction-Romane erschienen – als deren wichtigster und prominentester Kim Stanley Robinsons DAS MINISTERIUM FÜR DIE ZUKUNFT aus dem Jahr 2020 gilt.

An einen der vielen Lösungsansätze in Robinsons Buch knüpft nun der aktuelle Roman PARTS PER MILLION – GEWALT IST EINE OPTION von Theresa Hannig an, und der zweite Teil des Titels lässt unschwer erkennen, in welche Richtung es dabei geht.

Zuerst ist die erfolgreiche Buchautorin Johanna Stromann nur Beobachterin. Doch nachdem sie bei den Recherchen zu ihrem neuen Projekt etwas tiefer in die Materie eintaucht, fällt es ihr immer schwerer, diesen passiven Status beizubehalten. Denn Klimaaktivismus polarisiert, vor allem in Deutschland, und eine neutrale Meinung dazu wird von beiden Seiten nicht akzeptiert. Johanna erlebt deshalb auch bald am eigenen Leib, wie schnell Argumente verpuffen, wenn von Gegenüber Gewalt ins Spiel gebracht wird.

Nachdem sie sich entschlossen hat, auf Seiten der Aktivisten zu bleiben und von deren Warte aus ihr Buch zu schreiben, verlangt eine sich stetig weiterdrehende (Gewalt-)Spirale immer schmerzlichere Entscheidungen von ihr. Einmal ganz abgesehen davon, dass Johanna zuhause auch noch eine Familie hat, die unter ihrer Hingabe an „die Sache“ in immer größerem Ausmaß zu leiden hat …

Hannig hat sich selbst erkennbar intensiv mit den Themen Klimawandel, Fridays for Future, Naturkatastrophen und Anverwandtem sowie den politischen und gesellschaftlichen Reaktionen darauf beschäftigt. Ihr Buch ist aus einer radikalen Ich-Perspektive geschrieben, zeigt dabei den Weg ihrer Protagonistin in ihrer subjektiven, jedoch niemals unreflektierten Sichtweise und folgt ihr bis zum Ende – ohne dabei zu behaupten, dass Johannas Weg der richtige oder gar der einzige wäre. Stilistisch entwickelt sich die Story rasant voran, es gibt zwar einige Abschnitte, in denen die Aktivisten ihre „Erklärungen“ formulieren, größtenteils wird jedoch darauf gesetzt, dass das Lesepublikum nicht völlig unbeleckt davon ist, was an jedem neuen Tag um es herum passiert.

Insoweit ist PARTS PER MILLION die mitteleuropäische Actionversion von Robinsons MINISTERIUM und damit ein beachtliches Statement einer der engagiertesten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart.

Horst Illmer

  • Theresa Hannig
    PARTS PER MILLION – GEWALT IST EINE OPTION. Roman.
    Frankfurt, S. Fischer/TOR, 2024, 368 S.
    ISBN 978-3-596-70891-8 / 18,00 Euro
    Klappenbroschur

Es gibt Geschichten, die müssen einfach immer wieder erzählt werden. Manchmal nur deswegen, weil das Thema unausschöpflich ist wie Liebe, Leben oder Tod, aber es gibt auch brennend Aktuelles, dringlich Aufblitzendes, sich unbarmherzig Aufdrängendes, das in eine literarische Form gebracht werden will.

Dazu gehört momentan (und ob wir ihn jemals wieder loswerden,

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Jol Rosenberg: ETOMI

von am 6. November 2024 noch kein Kommentar

  • Jol Rosenberg
    ETOMI. Erwachen. Roman.
    Hamburg, Plan 9, 2023, 399 S.
    ISBN 978-3-948700-83-6 / 20,00 Euro
    Paperback
    &
    ETOMI. Aufbruch. Roman.
    Hamburg, Plan 9, 2024, 411 S.
    ISBN 978-3-948700-84-3 / 20,00 Euro
    Paperback

Irgendwo in Mitteleuropa im 24. Jahrhundert: Unter einer schützenden Kuppel leben die Bewohner von Eos unbeschwert und sorgenfrei. Für alle wird gesorgt, sie können allen ihren Neigungen nachgehen, arbeiten wann und was sie wollen, lieben wann und wen sie wollen – bis die „Große Mutter“, die zentrale KI von Eos, verkündet, dass es Zeit zum „Austritt“ ist.
Die Bewohnerin Lea begleitet ihre Freundin Mari, deren Zeit abgelaufen ist, zu ihrer Erlösungsfeier. Sie wird nun in ihre „finale Form“ gebracht, d.h. sie stirbt. Erst in diesem Moment erkennt Lea, dass sie und Mari gleichaltrig waren – auch für sie wird wohl bald das Ende ihres Daseins erreicht sein.
Doch ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit ist Lea nicht bereit, diese Entscheidung der Großen Mutter so einfach hinzunehmen. Sie beschließt zu fliehen – auch wenn sie keine Ahnung hat wohin und ob das überhaupt möglich ist. Dann erfährt sie durch Zufall davon, dass „Etomi“ nicht nur eine Parfummarke ist, sondern „der Ort an dem alles ist, wie es sein sollte“.
Lea ist total überrascht, denn die Welt außerhalb der Kuppelstadt, so wird behauptet, ist menschenleer und unfruchtbar. Das allerdings erweist sich schnell als Lüge. Eos ist von einem Ring aus geschäftigen, dreckigen, lebendigen Vorstädten umgeben, in denen alles produziert wird, was die Stadtmenschen für ihr Leben und ihren Luxus so brauchen. Allerdings ist das Leben in Aranus nicht halb so privilegiert wie in Eos. Dort gibt es nicht nur die Menschen, welche die komplexen Arbeiten verrichten, sondern auch Arbeitsklone mit nur rudimentären Hirnfunktionen, die als billige Sklaven herhalten müssen. Dazu kommen noch Cyborgs, die für Spezialaufgaben gedacht sind und die „Alphas“ in der Verwaltung.
In Aranus lernt Lea erstmals Personen kennen, die nicht wie sie in Eos aufgewachsen sind. Zum Beispiel die kecke und vorlaute Ingenieurin Josa, eine Meisterin im Improvisieren, oder den Schlachthaus-Klon Nori, der ihr das Leben rettet und damit sein Schicksal mit dem ihren verknüpft. Und ganz langsam kristallisiert sich heraus, dass Lea einen Weg beschreitet, den die Große Mutter für sie angelegt hat. Sie soll, gemeinsam mit einem kleinen Team von Freunden, nach Etomi suchen – denn der Araneos-Komplex ist in großer Gefahr und benötigt dringend Hilfe …

Damit haben wir in etwa den groben Rahmen, den Rosenberg für die Erzählung errichtet hat, doch das Eigentliche passiert in der Interaktion zwischen den Handelnden. Rosenberg beschreibt das Leben der Figuren sehr detailfreudig und psychologisch fundiert. Das reicht von den jeweiligen Sinneseindrücken und Gefühlen bis hin zu großartigen Inneren Monologen und glaubwürdigen Gesprächen und Diskussionen zwischen Freunden und Fremden, Geliebten und Feinden. Zudem wird deutlich erkennbar, dass sich die Persönlichkeiten im Lauf der Geschichte verändern, so etwa wenn Lea sich am Anfang noch hauptsächlich darum sorgt, wie ihr äußeres Erscheinungsbild ist, welches Parfum sie auflegen soll und ob sie jetzt eine oder zwei der Euphorie-Pillen einnehmen soll. Dagegen steht dann später eine verunsicherte, gequälte Seele, die sich fragt, ob es richtig war, einige ihrer liebsten Menschen mit in ihren persönlichen Kampf gegen die Große Mutter hineingezogen zu haben.
Weit über diesen Hauptstrang der Erzählung hinaus reicht allerdings die Entwicklung, die der Arbeitsklon Nori nimmt: Von einem unsicher-ängstlichen Geschöpf, das (aus der Sicht der KI und der Menschen, denen es begegnet) offenbar fehlerhaft ist, wächst Nori zu einer wirklichen Persönlichkeit, die durch Beobachtung, Selbstbefragung und steter Neugier zur Erkenntnis ihrer selbst gelangt und die letztlich ihre eigenen Entscheidungen fällt.

Natürlich (das Private ist immer auch das Politische) geht es in ETOMI auch um das große Ganze: Es gibt das gesichtslose Großkapital, normale Technikerinnen und Arbeiter, die stolz auf das von ihnen Geleistete sind, geklonte Arbeitssklaven ohne freien Willen, Cyborgs, die mit ihrer Programmierung kämpfen, bis es ihnen gelingt sie umzuschreiben, Künstliche Intelligenzen unterschiedlicher Stärke, die jedoch allesamt von ihrer Gottähnlichkeit überzeugt sind – und es gibt „System 5“, eine Guerilla-Gruppe von Außenseitern, die versuchen, eine Gleichstellung von Menschen, Klonen, Cybern, KIs und Tieren zu erreichen.

Im Laufe der insgesamt 800 Seiten entwickelt sich vor dem Auge der Leser*innen eine hervorragend konstruierte, spannend erzählte und perfekt getimte Geschichte, in der sich vieles als Camouflage herausstellt, jede Motivation mehrfach hinterfragt werden muss – und Lea, Josa und Nori am Ende Ziele erreicht haben, die weit von dem entfernt sind, was für sie vorgesehen war oder sie selbst sich vorstellen konnten.

Jol Rosenberg hat mit ETOMI eine moderne, „uneindeutige“ Utopie im Sinne Ursula K. Le Guins geschrieben. Einen Weltentwurf, in dem nur wenig vorbestimmt ist – und fast alles möglich. Das Setting und die Handlung haben den Anschein einer eher dystopischen Wirklichkeit, aber die Figuren haben, allen fremdbestimmten Plänen zum Trotz, die Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und je weiter sie vom Plan abweichen, desto erfolgreicher erfüllen sie ihn. Diese Zwiespältigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch Rosenbergs Doppel-Roman und macht ETOMI zu einem der wichtigsten und lesenswertesten Bücher der letzten Jahre. Denn der Weg ist das Ziel …

Horst Illmer

  • Jol Rosenberg
    ETOMI. Erwachen. Roman.
    Hamburg, Plan 9, 2023, 399 S.
    ISBN 978-3-948700-83-6 / 20,00 Euro
    Paperback
    &
    ETOMI. Aufbruch. Roman.
    Hamburg, Plan 9, 2024, 411 S.
    ISBN 978-3-948700-84-3 / 20,00 Euro
    Paperback

Irgendwo in Mitteleuropa im 24. Jahrhundert: Unter einer schützenden Kuppel leben die Bewohner von Eos unbeschwert und sorgenfrei. Für alle wird gesorgt, sie können allen ihren Neigungen nachgehen, arbeiten wann und was sie wollen,

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Kurt Vonnegut: GALAPAGOS

von am 28. Oktober 2024 noch kein Kommentar

  • Kurt Vonnegut
    GALAPAGOS. Roman.
    Übersetzt von Lutz-W. Wolff
    (Galapagos / 1985)
    München, Heyne, 2024, 336 S.
    ISBN 978-3-453-32265-3 / 17,00 Euro
    Klappenbroschur

Die Sache war nämlich so …
Vor 1 Million Jahre erschien der neueste Roman von Kurt Vonnegut. Er beschrieb darin das Leben der heutigen Menschheit und wie das damals, im Jahre des Herrn 1986, alles anfing. Genau genommen begann alles natürlich noch viel früher, aber das soll uns hier und heute nicht stören, genauso wenig wie es Mr. Vonnegut jemals gestört hat.

Vernehmt also aus berufenem Mund, wie es dazu kam, dass es Menschen nur noch auf den Galapagos-Inseln gibt, und warum sie mit ihren Flossen und kleinen Köpfen und ihrem pelzartigem Fell dem Prinzip des Überlebens dienlicher sind als Anno dazumal.

„Die Sache war nämlich so“: Im Zeitalter der „großen Gehirne“ lebten die Menschen in einer Gemeinschaft namens Zivilisation, deren Zusammenhalt sich vor allem auf Geld gründete. Als dann dieses Geldsystem zusammenbrach, zerfiel auch die Zivilisation. Fast gleichzeitig machte ein neuartiges Bakterium alle Frauen unfruchtbar, womit die Geschichte eigentlich zu Ende wäre, wenn da nicht …

… eine Kreuzfahrt hätte stattfinden sollen. Ausgangspunkt war Guayaquil in Ecuador, Ziel sollten die Galapagos-Inseln sein, und die Teilnehmerliste umfasste von Jackie Onassis bis Mick Jagger alles, was Rang und Namen hatte. Stattdessen fanden sich einige eher unbedeutende Menschen ein: Die Witwe Mary Hepburn, eine schwangere Japanerin namens Hisako Hiroguchi, die erblindete Selena MacIntosh sowie sechs kleine Kank-bonos-Mädchen, die letzten Überlebenden ihres Stammes.

Diese neun Frauen befanden sich am Vorabend des geplanten Ausflugs im Hotel El Dorado in Guayaquil und waren die einzigen Gäste. Alle anderen waren wegen der kritischen Weltlage gar nicht nach Ecuador gekommen, und die Kreuzfahrt der BAHIA DE DARWIN war eigentlich schon abgesagt. Aber als die peruanische Luftwaffe Ecuador angriff, konnten die Frauen den Repräsentations-Kapitän der BAHIA DE DARWIN Adolf von Kleist dazu überreden, auch ohne Ausrüstung und Mannschaft auszulaufen. So trieben sie fünf Tage im Stillen Ozean herum, bis sie schließlich durch einen glücklichen Zufall vor Santa Rosalia strandeten.

Geschützt vor dem Bakterium, von dem sie nichts wussten, vergessen von einer Menschheit, die Wichtigeres zu tun hatte, als neun verschwundene Frauen zu suchen, gründete Kapitän von Kleist hier das neue Menschengeschlecht. Von ihm und der kleinen Akiko – der leicht mutierten Tochter von Hisako – stammen alle heutigen Menschen ab.

Diese Geschichte der heutigen Menschheit ist geschrieben mit einem liebenswert-heiteren Zynismus. Vonnegut erzählt in einer fahrig wirkenden Art, die es ihm erlaubt, in kurzen Bemerkungen die Lebensgeschichten der Haupt- und Nebenpersonen ebenso einfließen zu lassen wie Zitate aus Literatur und Geschichte.

Wenn ihr noch Hände hättet, ein Buch zu halten, und ein „großes Gehirn“, es zu lesen, würde ich euch auffordern: Zugreifen! Lesen!

Horst Illmer

  • Kurt Vonnegut
    GALAPAGOS. Roman.
    Übersetzt von Lutz-W. Wolff
    (Galapagos / 1985)
    München, Heyne, 2024, 336 S.
    ISBN 978-3-453-32265-3 / 17,00 Euro
    Klappenbroschur

Die Sache war nämlich so …
Vor 1 Million Jahre erschien der neueste Roman von Kurt Vonnegut. Er beschrieb darin das Leben der heutigen Menschheit und wie das damals, im Jahre des Herrn 1986, alles anfing. Genau genommen begann alles natürlich noch viel früher, aber das soll uns hier und heute nicht stören,

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Die Abschaffung des Todes

von am 16. Oktober 2024 noch kein Kommentar

  • Andreas Eschbach
    DIE ABSCHAFFUNG DES TODES. Thriller.
    Köln, Lübbe, 2024, 655 S.
    ISBN 978-3-7577-0051-5 / 26,00 Euro
    Hardcover

Es wird Herbst und der neueste Thriller von Andreas Eschbach erscheint – und auch nach fast dreißig Jahren, die seit seinem ersten Buch vergangen sind, und den gut vierzig Romanen, die dem Erstling folgten, kribbelt es mich in den Fingern und es erfasst mich eine gewisse Vorfreude auf die Lektüre.

Diesmal, im September 2024, geht es um DIE ABSCHAFFUNG DES TODES, also um die Unsterblichkeit für alle! Was für ein Thema, in Zeiten von Überbevölkerung und weltweiten Klimaproblemen. Doch gemach, Eschbach wäre nicht der Erfolgsautor, der er ist, wenn sich der Inhalt seines Romans so unterkomplex darbieten würde.

Also von vorn. Zuerst einmal lernen wir James Henry Windover kennen, den Herausgeber von The Windover View. Diese wohl exklusivste Zeitung der Welt hat nur ein paar dutzend Abonnenten, die allerdings bereit sind, für die Informationen, die The Windover View liefert, eine Million Euro pro Jahr zu zahlen! Dafür bekommen sie Fakten, Fakten und nochmals Fakten. Keine Meinung, keine manipulativen Fake-News, keine Handlungsempfehlungen – nur die harten, belastbaren Zahlen und Daten. Und nein, niemand kann diese Zeitung einfach so abonnieren. Dazu bedarf es der Zustimmung der anderen Leser – denn es handelt sich letztlich um „Herrschaftswissen“, also darum, als Leser oder Leserin der restlichen Welt immer einen Schritt voraus zu sein.

Allerdings gibt es auch in diesem erlauchten Kreis Hierarchien und Abstufungen. Wenn zum Beispiel die britische Multimilliardärin Anahit Kevorkian anruft, dann lässt Windover alles stehen und liegen und reist zu ihr nach London. Denn Kevorkian ist die Initiatorin und Geldgeberin hinter The Windover View. Und diesmal hat sie einen ganz besonderen Auftrag für ihren Schützling: Windover soll in die USA fliegen und sie bei einem ebenso exklusiven wie geheimnisvollen Event vertreten, zu dem sie und einige wenige andere Finanzgrößen eingeladen wurden.
Wiederwillig aber folgsam begibt sich Windover also zu diesem Geheimtreffen der Superreichen – und was er dort erfährt, ist geeignet, die Weltordnung über den Haufen zu werfen. Es geht um nichts weniger als darum, den Tod zu besiegen …

So, an dieser Stelle müsste meine Besprechung eigentlich enden, denn jedes weitere Wort wäre ein unfairer Spoiler, der das Vergnügen, selbst herauszufinden wie Eschbach aus diesem Schlamassel rauskommt, zunichtemachen würde.

Andererseits klingt das oben gesagte einfach allzu sehr nach „Routine“ und „Vorhersehbar“, was, nach einer so langen Erfolgsstrecke wie bei Eschbach, eine durchaus reale Gefahr auch für den besten Schriftsteller ist. Aber ich denke, dass sich Eschbach dieser Problematik bewusst war und deshalb rechtzeitig gegensteuerte. Gerade als wir Leser*innen denken, jetzt sei klar, wie die Sache weiterläuft, bringt ein verschwundener Schriftsteller das ganze Erzählgefüge zum Wanken. Alles bisher als sicher angesehene Wissen wird durch eine neue Information hinterfragbar, alle Protagonisten müssen neu bewertet werden – und die immer größer werdende Spannung steigert sich bis fast zur letzten Seite und lässt uns kaum Zeit zum Atemholen.

Eine der ganz wenigen Schwächen von Andreas Eschbach war, gerade bei seinen Thrillern (weniger bei seinen Science-Fiction-Romanen), immer die Tatsache, dass er keine (mich) zufriedenstellenden Enden hinbekam. Auch darüber hat sich Eschbach wohl einige Gedanken gemacht – und seine „mehrstufige“ Lösung hat dann doch positiv überrascht.

Wie erhofft liefert Eschbach mit DIE ABSCHAFFUNG DES TODES also einen überaus lesbaren Thriller ab, diesmal inklusive einiger tiefer Blicke „hinter die Kulissen“ des Schreibens. Der Herbst ist gerettet.

Horst Illmer

  • Andreas Eschbach
    DIE ABSCHAFFUNG DES TODES. Thriller.
    Köln, Lübbe, 2024, 655 S.
    ISBN 978-3-7577-0051-5 / 26,00 Euro
    Hardcover

Es wird Herbst und der neueste Thriller von Andreas Eschbach erscheint – und auch nach fast dreißig Jahren, die seit seinem ersten Buch vergangen sind, und den gut vierzig Romanen, die dem Erstling folgten, kribbelt es mich in den Fingern und es erfasst mich eine gewisse Vorfreude auf die Lektüre.

Diesmal,

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Schecks Bestsellerbibel

von am 7. Oktober 2024 noch kein Kommentar

  • Denis Scheck
    SCHECKS BESTSELLERBIBEL.
    Schätze und Schund aus 20 Jahren.
    Mit 21 Schwarz-Weiß-Illustrationen von Torben Kuhlmann
    München, Piper, 2024, 430 S.
    ISBN 978-3-492-07294-6, 28,00 Euro
    Hardcover

Unser liebster TV-Literaturkritiker, der schwäbelnde Kölner Denis Scheck, hat sich intensive Gedanken darüber gemacht, welche Bücher ihn in den letzten zwanzig Jahren so richtig beeindruckt, beziehungsweise so richtig geärgert haben.

Daraus entstand SCHECKS BESTSELLERBIBEL, sein neuestes soeben bei Piper erschienenes Buch, in dem Scheck auf 430 Seiten über literarische „Schätze und Schund aus 20 Jahren“ schreibt. Bereichert werden seine klugen Gedanken zum allgemeinen Bestseller-Kult und die launigen Jahresrückblicke durch 21 Schwarz-Weiß-Bilder von Torben Kuhlmann, der auch den Einband und die Vorsatzpapiere gestaltete.

Ausgestattet mit Lesebändchen und einem Register, gedruckt in Schwarz und Orange auf Fingerschmeichelpapier, das fadengeheftet in einem ansprechenden Halbleineneinband eingehängt ist, stellt SCHECKS BESTSELLERBIBEL weit mehr dar, als nur die Verschriftlichung seiner mehr als 200 DRUCKFRISCH-Sendungen: Hier fordert und fördert ein Büchermensch gleichermaßen sein Lieblingsmedium wie seine mit-lesenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.

Wenn Denis Scheck im Dezember 2024 seinen 60. Geburtstag feiert, ist auch Weihnachten nicht mehr weit: Wer schlau ist, hat dann bereits (mindestens) ein Geschenk schon parat liegen.

Horst Illmer

  • Denis Scheck
    SCHECKS BESTSELLERBIBEL.
    Schätze und Schund aus 20 Jahren.
    Mit 21 Schwarz-Weiß-Illustrationen von Torben Kuhlmann
    München, Piper, 2024, 430 S.
    ISBN 978-3-492-07294-6, 28,00 Euro
    Hardcover

Unser liebster TV-Literaturkritiker, der schwäbelnde Kölner Denis Scheck, hat sich intensive Gedanken darüber gemacht, welche Bücher ihn in den letzten zwanzig Jahren so richtig beeindruckt, beziehungsweise so richtig geärgert haben.

Daraus entstand SCHECKS BESTSELLERBIBEL, sein neuestes soeben bei Piper erschienenes Buch,

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Das Buch Anderswo

von am 11. September 2024 1 Kommentar

  • Keanu Reeves & China Miéville
    DAS BUCH ANDERSWO. Roman.
    Ü: Jakob Schmidt, Ill: Sister Hyde
    (THE BOOK OF ELSEWHERE / 2024)
    Berlin, Gutkind, 2024, 528 S.
    ISBN 978-3-98941-044-2 24,00 Euro
    Hardcover

Okay. China Miéville, für lange Zeit einer meiner absoluten Lieblingsautoren, hat seit über zehn Jahren keinen Roman mehr veröffentlicht. Und jetzt das: eine Zusammenarbeit mit Keanu Reeves! Hoppla. Mit wem? Reeves ist doch ein Schauspieler. Actionfilme. Matrix. John Wick.
Aber: Reeves ist inzwischen auch als Comic-Autor unterwegs. Seine 12-teilige Miniserie BRZRKR war in den USA ein riesiger Erfolg. Auch dabei hatte Reeves Co-Autoren, allerdings stammt die Grundidee wohl komplett von ihm. Also durchaus bemerkenswert.
In diversen Interviews haben sowohl Reeves wie Miéville betont, wie harmonisch die Zusammenarbeit verlief – und zwischen den Zeilen konnte man herauslesen, dass wohl China Miéville den „Roman zum Comic“ geschrieben hat, also eine Geschichte aus dem Leben von „B.“ (wie Reeves’ Figur des „ewigen Kriegers“ genannt wird) erzählt, die in der Welt des sich rasant weiter entwickelnden BRZRKR-Universums spielt.
(Bis zum Beweis des Gegenteils werde ich DAS BUCH ANDERSWO also mal als China-Miéville-Roman betrachten. Was die Messlatte ziemlich hoch legt, nebenbei gesagt.)

Irgendwann in fernster Vergangenheit beginnt der Weg von B. – als unsterblicher Krieger und als ewig Suchender. Seine Mission ist ihm unbekannt, aber er kann nichts so gut wie töten. Und wenn es ihn selbst erwischt, kehrt er in immer gleicher Gestalt zurück, voll entwickelt und bereit für den nächsten Kampf. In den Pausen dazwischen versucht er einen Sinn zu finden für sein Dasein. Und er sucht nach einer Möglichkeit, diesen endlosen Kreislauf zu durchbrechen.
Als die Handlung des Romans einsetzt, ist er bei dieser Suche inzwischen im Hier und Jetzt angekommen und beim US-Militär, wo man ihm wohl glaubwürdig versichert hat, dass sich da schon die eine oder andere Gelegenheit finden würde, sein finales Ende herbeizuführen. Das erweist sich aber als Täuschungsmanöver – die Herrschaften sind eher daran interessiert, weitere unzerstörbare Soldaten herzustellen. Als sich dann jedoch weitere unsterbliche Wesen aus B.s Vergangenheit einmischen, entwickelt sich das Projekt plötzlich in eine durchaus unerwünschte Richtung …

Ja, soweit es Stil und Sprachvermögen angeht, liest sich DAS BUCH ANDERSWO tatsächlich wie ein Mieville-Roman, wenngleich er die Komplexität und Kunstfertigkeit seiner frühen „Bas-Lag“-Bücher nicht erreicht. Trotzdem erkennt man im Text Mievilles Affinität zu Surrealismus und Mystik. Aber das Setting in der BRZRKR-Welt scheint dann doch als zu limitiert, um darin literarische Höchstleistungen erreichen zu können. Es fehlt einfach die Möglichkeit, die Leser*innen überraschen zu können. Ich kann mir zum Beispiel einfach nicht vorstellen, dass noch irgendwer darüber erstaunt sein könnte, dass B. vom militärischen Komplex der USA hintergangen wird.
Und als einziges originelles mystisches Element ist mir ein Zombie-Babirusa (sprich ein gemeiner Hirscheber) dann doch zu wenig.

Auch wenn der englische Originalverlag damit wirbt, dass THE BOOK OF ELSEWHERE (so der Originaltitel) „allerfeinste Science-Fiction-Sahne sei, mit einem überraschenden Konzept und undurchschaubaren Charakteren“, so kann ich mich nur dem zweiten Teil dieses Werbespruches anschließen: „ mit einem Plot, der Action, Drama und Existenzialismus auf eine Weise verbindet, die die Leserschaft staunend zurücklässt“.

Für mich gehört DAS BUCH ANDERSWO leider viel zu sehr zum derzeitigen Mainstream, jedenfalls unter der Prämisse, dass es ein Mieville-Roman ist, um es wirklich genießen zu können; vielleicht sollte ich meine Ansprüche einfach etwas zurücknehmen und das Werk im Regal unter „R“ wie Reeves einsortieren?

Horst Illmer

  • Keanu Reeves & China Miéville
    DAS BUCH ANDERSWO. Roman.
    Ü: Jakob Schmidt, Ill: Sister Hyde
    (THE BOOK OF ELSEWHERE / 2024)
    Berlin, Gutkind, 2024, 528 S.
    ISBN 978-3-98941-044-2 24,00 Euro
    Hardcover

Okay. China Miéville, für lange Zeit einer meiner absoluten Lieblingsautoren, hat seit über zehn Jahren keinen Roman mehr veröffentlicht. Und jetzt das: eine Zusammenarbeit mit Keanu Reeves! Hoppla. Mit wem? Reeves ist doch ein Schauspieler. Actionfilme. Matrix.

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Der absolute Horror

von am 4. September 2024 3 Kommentare

Christian Blees
DER ABSOLUTE HORROR.
Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland.
Durchgehend farbig illustriert
Barmstedt, Verlag Volker Hamann/Edition Alfons, 2024, 240 Seiten
Texte zur graphischen Literatur Band 6
ISBN 978-3-946266-48-8 / 29,95 Euro

Zu den wiederkehrenden Höhepunkten im Bereich der Sekundärliteratur zum Comic-Genre gehören die Bücher von Christian Blees. In der Reihe „Texte zur graphischen Literatur“, die von der Edition Alfons herausgegeben wird, erschien im Juni 2024 als Band 6 DER ABSOLUTE HORROR, in dem Blees „die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland“ festhält. Und mit diesem Untertitel ist auch schon der Unterschied benannt, zwischen dem Buch von Blees und dem vor einigen Jahren von Alexander Braun veröffentlichten Band HORROR IM COMIC (Avant), der vor allem den internationalen Markt betrachtet.

In seinem sehr gut lesbaren Stil erzählt Blees von den ersten Höhepunkten des Horror-Comic-Genres im Amerika der 1950er Jahre, die hierzulande nur punktuell auftauchten – und sofort wieder verschwanden. Nachdem Film und Groschenroman das deutschsprachige Publikum dann etwas weiter vorbereitet hatten, gewann die Grusel-Welle auch bei uns an Kraft und ab etwa 1970 füllten Horror-Comics die Regale der Bahnhofsbuchhandlungen, Zeitungskioske und der wenigen Buchhändler, die diese „Schundheftchen“ im Programm hatten.

In zehn Kapiteln auf 240 zwei- bis dreispaltigen Textseiten, unterstützt von hunderten zumeist farbigen Bildbeispielen, vollzieht Blees diese Literaturgeschichte der besonderen Art nach und schaut am Ende sogar fast tagesaktuell auf derzeit Erscheinendes und Angekündigtes.

Blees schafft in DER ABSOLUTE HORROR fast Unmögliches: Auf beschränktem Raum eine vielfältige und detailgenaue Übersicht über eines der spannendsten Spezialthemen der Phantastik und der Neunten Kunst zu geben, die selbst ausgefuchste Spezialisten zufrieden stellen dürfte.

Horst Illmer

Christian Blees
DER ABSOLUTE HORROR.
Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland.
Durchgehend farbig illustriert
Barmstedt, Verlag Volker Hamann/Edition Alfons, 2024, 240 Seiten
Texte zur graphischen Literatur Band 6
ISBN 978-3-946266-48-8 / 29,95 Euro

Zu den wiederkehrenden Höhepunkten im Bereich der Sekundärliteratur zum Comic-Genre gehören die Bücher von Christian Blees. In der Reihe „Texte zur graphischen Literatur“, die von der Edition Alfons herausgegeben wird, erschien im Juni 2024 als Band 6 DER ABSOLUTE HORROR,

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Strandgut

von am 1. Juli 2024 1 Kommentar

Marianne Labisch (Hrsg.)
STRANDGUT.
Vorwort: Jacqueline Montemurri
Nachwort: Marianne Labisch
Zwischentexte: Michael K. Iwoleit
Illustrationen: Mario Franke & Uli Bendick
Originalzusammenstellung
Berlin, Hirnkost, 2024, 370 S.
ISBN 978-3-98857-054-3 / 32,00 Euro

Mit STRANDGUT, herausgegeben von Marianne Labisch, veröffentlicht der Hirnkost Verlag erneut eine seiner hochklassigen Original-Anthologien.

Dass es nicht nur im Hier und Heute Flüchtlinge gibt, sondern überall im Universum und zu allen Zeiten, ist das Kernthema dieser Sammlung. Erzählt werden diese etwas anderen „Flüchtlingsgeschichten“ von 20 deutschsprachigen Autor*innen in ihren phantastischen Stories, die stilistisch alle Bereiche des Genres abdecken: Science Fiction, Fantasy, Horror (themenbedingt praktisch überall vorhanden), Thriller, aber auch Überraschendes wie Märchen oder ein Lied.

Die Liste der Beiträger*innen kann sich echt sehen lassen: Rudolf Arlanov, Arno Endler, Anke Höhl-Kayser, Heidrun Jänchen, Veith Kanoder-Brunnel, Marianne Labisch, Karsten Lorenz, Aiki Mira, Jacqueline Montemurri, Monika Niehaus, Janika Rehak, Jol Rosenberg, Ansgar Sadeghi, Regina Schleheck, Michael Schmidt, Friedhelm Schneidewind, Achim Stößer, Michael Tinnefeld, Yvonne Tunnat und Vincent Voss.

Der editorische und produktive Aufwand für diese Anthologie wurde selbst für Hirnkost-Verhältnisse nochmals gesteigert. Von der Autorin und Flüchtlingsberaterin Jacqueline Montemurri stammt das sehr persönliche und bewegende Vorwort. Bebildert sind die Stories wie gewohnt von Mario Franke und Uli Bendick, für alle Beiträger*innen gibt es kurze biografische Informationen und als »Extra« gibt mit Michael K. Iwoleit ein ausgewiesener Kurzgeschichten-Spezialist kenntnisreiche Erläuterungen zu allen Geschichten.

Das und die Ausstattung des Bandes mit Fadenheftung, massivem Papp-Einband, umlaufendem Umschlagbild und Lesebändchen sollten auch die unbedarftesten Kritiker davon überzeugen, dass „Science Fiction“ schon lange nicht mehr für „Fluchtliteratur“ steht – außer es ist notwendig!

Horst Illmer

Marianne Labisch (Hrsg.)
STRANDGUT.
Vorwort: Jacqueline Montemurri
Nachwort: Marianne Labisch
Zwischentexte: Michael K. Iwoleit
Illustrationen: Mario Franke & Uli Bendick
Originalzusammenstellung
Berlin, Hirnkost, 2024, 370 S.
ISBN 978-3-98857-054-3 / 32,00 Euro

Mit STRANDGUT, herausgegeben von Marianne Labisch, veröffentlicht der Hirnkost Verlag erneut eine seiner hochklassigen Original-Anthologien.

Dass es nicht nur im Hier und Heute Flüchtlinge gibt, sondern überall im Universum und zu allen Zeiten, ist das Kernthema dieser Sammlung.

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In fernen Gefilden

von am 24. Juni 2024 1 Kommentar

Joanna Russ
IN FERNEN GEFILDEN.
Werke 1
Ü: Hannes Riffel, Erik Simon & Thomas Ziegler
Nachwort: Jeanne Cortiel
Wittenberge, Carcosa, 2024, 393 S.
ISBN 978-3-910914-18-6 / 26,00 Euro

Respekt.

Nicht nur bei mir selbst, sondern auch in all den Äußerungen, Besprechungen, Interviews über und mit Joanna Russ, die ich kenne, ist „Respekt“ die am deutlichsten erkennbare Emotion.
Was für eine außergewöhnliche Person muss Russ gewesen sein, dass sie solche Empfindungen auslöst – und das oftmals sogar bei Menschen, die sie überhaupt nicht persönlich gekannt haben. (Ein schönes und lesenswertes Beispiel ist das Interview, das Charles Platt – mittels Telefon! – 1981 mit Russ geführt hat. Selbst bei dieser Distanz hält er sich erkennbar mehr zurück als bei den meisten anderen seiner Gesprächspartner. Vgl. DIE WELTENSCHÖPFER: Band 3; Memoranda, 2022).

Vergnügen.

Neben all den ernsten Themen und der feministischen Metaebene für die Joanna Russ vor allem bekannt ist (aber: wer hat denn, und wann, überhaupt zuletzt ein Russ-Buch gelesen?), muss es doch gute Gründe dafür geben, dass ein deutscher Verlag wie Carcosa rechtzeitig zu Buchmesse im Frühjahr 2024 als Glanzstück seines aktuellen Programms den ersten Band einer Werkausgabe von Joanna Russ publiziert.
Und wer sich unvoreingenommen auf das Buch, das den Titel IN FERNEN GEFILDEN trägt, und neben den kompletten „Alyx“-Geschichten zwei wichtige Essays, eine Reihe von Buchbesprechungen der amerikanischen Autorin sowie ein kluges Nachwort der Herausgeberin Jeanne Cortiel enthält, einlässt, wird zuallererst eine Autorin entdecken, deren Geschichten zu lesen echtes Vergnügen bereitet.
Die „Barbarin“ Alyx entwickelt sich innerhalb von 5 Kurzgeschichten und einem kurzen Roman von einer selbstbewussten Fantasy-Kämpferin zu einer außergewöhnlich begabten Science-Fiction- Transtemporal-Agentin. Dabei erlebt sie Abenteuer, Leidenschaften, Liebe und Verzweiflung und bewahrt dabei eine stoische, in sich selbst ruhende Gelassenheit, die selbst bekanntere Superhelden vor Neid blass werden lässt.

Intelligenz.

Russ hat nicht nur Geschichten und Romane geschrieben, sondern auch viele Jahre lang an Hochschulen unterrichtet und Buchbesprechungen und Essays verfasst. Einige dieser Rezensionen und Sachtexte, parallel zu den Alyx-Geschichten am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre entstanden, fanden Eingang in diesen ersten von drei geplanten Bänden der „Werke“. In ihnen blitzen die herausragende Intelligenz und der große Furor auf, die hinter und neben der Kunst ihres Schreibens (und ihres Humors), die Wirkung Russ’scher Texte bestimmen. Egal ob sie die Romane und Erzählungen ihrer Genre-Kolleg*innen ins Visier nimmt oder theoretische Überlegungen zum Realitätsgehalt phantastischer Texte anstellt, egal ob sie schimpft, flucht, lobt, zerreißt, widerlegt oder begeistert ist – immer versucht sie gerecht zu sein und auch der „Gegenseite“ zumindest zuzuhören. Es handelt sich dabei um eine lobenswerte und leider ein wenig ins Vergessen geratene Tugend, und auch deshalb kann es nur von Vorteil sein, dieses kurzweilige und intelligente und Respekt erheischende Buch zu lesen.

Horst Illmer

Joanna Russ
IN FERNEN GEFILDEN.
Werke 1
Ü: Hannes Riffel, Erik Simon & Thomas Ziegler
Nachwort: Jeanne Cortiel
Wittenberge, Carcosa, 2024, 393 S.
ISBN 978-3-910914-18-6 / 26,00 Euro

Respekt.

Nicht nur bei mir selbst, sondern auch in all den Äußerungen, Besprechungen, Interviews über und mit Joanna Russ, die ich kenne, ist „Respekt“ die am deutlichsten erkennbare Emotion.
Was für eine außergewöhnliche Person muss Russ gewesen sein, dass sie solche Empfindungen auslöst – und das oftmals sogar bei Menschen,

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Schwelende Rebellion

von am 12. Juni 2024 3 Kommentare

Leigh Brackett
SCHWELENDE REBELLION. Novellen.
Übersetzung & Kommentar: Helmut W. Pesch
Originalzusammenstellung
Wittenberge, Carcosa, 2024, 263 S.
ISBN 978-3-910914-14-8 / 22,00 Euro

Inhalt:
Königin der Marskatakomben
(Queen of the Martian Catacombs / 1949)
Zauberin der Venus
(Enchantress of Venus / 1949)
Schwarze Amazone des Mars
(Black Amazon of Mars / 1951)

Die ersten Bücher der Autorin Leigh Brackett wurden in Deutschland bereits Ende der 1950er Jahre veröffentlicht, trotzdem (oder auch deswegen) haftet ihr immer noch der Ruch der Groschenheft-Schreiberin an, deren Texte niveaulose Unterhaltungsliteratur seien. Dem entgegenzuwirken hat sich der Carcosa Verlag vorgenommen, der letztes Jahr bereits das beeindruckende Meisterwerk DAS LANGE MORGEN neu heraus gebracht hat.

Mit den drei Novellen, die den Inhalt des Sammelbandes SCHWELENDE REBELLION bilden, werden diesmal drei Abenteuer veröffentlicht, die Bracketts Pulp-Charakter Eric John Stark zum Helden haben. Die Stories erschienen im Original erstmals zwischen 1949 und 1951 und wurden von Helmut W. Pesch in ein furioses, eloquentes Deutsch übersetzt (und zudem kommentiert).

Natürlich steht auch hier vor allem die Action im Vordergrund, aber was Brackett ihrem Helden (und Stark ist ein Helden-Prototyp) an Hintergrund und Psychologie mitgibt, geht weit über alles Erwartbare hinaus. 2024 scheint ein gutes Jahr zu sein, um Leigh Bracket neu zu entdecken – und ihr endlich ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Horst Illmer

Leigh Brackett
SCHWELENDE REBELLION. Novellen.
Übersetzung & Kommentar: Helmut W. Pesch
Originalzusammenstellung
Wittenberge, Carcosa, 2024, 263 S.
ISBN 978-3-910914-14-8 / 22,00 Euro

Inhalt:
Königin der Marskatakomben
(Queen of the Martian Catacombs / 1949)
Zauberin der Venus
(Enchantress of Venus / 1949)
Schwarze Amazone des Mars
(Black Amazon of Mars / 1951)

Die ersten Bücher der Autorin Leigh Brackett wurden in Deutschland bereits Ende der 1950er Jahre veröffentlicht,

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Das Einstein Vermächtnis

von am 5. Juni 2024 Kommentare deaktiviert für Das Einstein Vermächtnis

Samuel R. Delany
DAS EINSTEIN-VERMÄCHTNIS. Roman.
Ü: Jakob Schmidt
(THE EINSTEIN INTERSECTION / 1967)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 170 S.
ISBN 978-3-910914-16-2 / 20,00 Euro

Die 1960er Jahre gelten als die Zeit der Hippies, der Flower-Power-Bewegung, der sexuellen Befreiung, der Drogen-Experimente – und der New Wave der Science Fiction.

Unter den „jungen Wilden“, die damals ihre ersten Werke veröffentlichten, und damit viele ihrer etablierten Kollegen ziemlich alt aussehen ließen, war Samuel R. Delany einer der experimentierfreudigsten, intelligentesten und lesenswertesten.

Seine Werke – allen voran NOVA, BABEL-17 und das hier vorliegende EINSTEIN-VERMÄCHTNIS – begeisterten Publikum und Kritik gleichermaßen und gehören inzwischen zum kanonischen Bestand jeder gut sortierten Science-Fiction-Bibliothek.

In Deutschland erschienen zwischen 1972 und 1985 gleich drei Ausgaben von THE EINSTEIN INTERSECTION, wie der mit einem Nebula Award ausgezeichnete Kurzroman im amerikanischen Original heißt, seither war das Werk nur noch antiquarisch zu bekommen. Diesen Missstand beseitigt jetzt DAS EINSTEIN-VERMÄCHTNIS, die bei Carcosa in der neuen Übersetzung von Jakob Schmidt vorliegende Ausgabe, die aufgrund einiger späteren Überarbeitungen durch den Autor und eines intensiven Lektorats auch die älteren Übersetzungen obsolet macht.

Von der ersten Zeile an ist es ein Vergnügen, der unverstellt-respektlosen Ich-Erzählung von Lobey zu folgen, der in ferner Zukunft auf einer Welt voller Mutanten nach Liebe, Glück und Bestimmung sucht und dafür nicht mehr zur Verfügung hat als seine Macheten-Flöte und sein unglaubliches musikalisches Talent.
Eine großartige (Wieder-)Entdeckung.

Horst Illmer

Samuel R. Delany
DAS EINSTEIN-VERMÄCHTNIS. Roman.
Ü: Jakob Schmidt
(THE EINSTEIN INTERSECTION / 1967)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 170 S.
ISBN 978-3-910914-16-2 / 20,00 Euro

Die 1960er Jahre gelten als die Zeit der Hippies, der Flower-Power-Bewegung, der sexuellen Befreiung, der Drogen-Experimente – und der New Wave der Science Fiction.

Unter den „jungen Wilden“, die damals ihre ersten Werke veröffentlichten, und damit viele ihrer etablierten Kollegen ziemlich alt aussehen ließen, war Samuel R.

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Die Stimme der Kraken

von am 29. Mai 2024 Kommentare deaktiviert für Die Stimme der Kraken

Ray Nayler
DIE STIMME DER KRAKEN. Roman.
Ü: Benjamin Mildner
(THE MOUNTAIN IN THE SEA / 2022)
Stuttgart, Tropen, 2024, 461 S.
ISBN 978-3-608-50013-4 / 26,00 Euro

Es gibt immer noch Bücher, denen ich beim ersten Blick darauf voll auf den Leim gehe, also sofort weiß, worum es geht – und dann bei der Lektüre feststelle, dass ich komplett danebenliege. So jetzt bei DIE STIMME DER KRAKEN, dem Erstlingsroman des Kanadiers Ray Nayler. Ohne eine Zeile gelesen zu haben, hätte ich das Ding sofort in mein Lovecraft-Epigonen-Regal einsortiert, was zum einen natürlich an meinen Vorurteilen liegt, zum anderen aber der durchaus gelungenen Buchgestaltung mit einem ziemlich fies blickenden Oktopus und dem dunkelvioletten Seitenschnitt geschuldet ist.

Aber dann war alles doch ganz anders: Es geht in DIE STIMME DER KRAKEN tatsächlich um Kopffüßler und darum, ob diese jemals in der Lage sein werden, ihre angeborene Intelligenz bis zu einem Grad weiter zu entwickeln, an dem sie mit unserer Spezies kommunizieren könnten.

Nayler siedelt seinen Hard-SF-Thriller in einer nicht allzu fernen Zukunft an, in der die großen Seen und die Meere tatsächlich leergefischt sind, und der „Nachschub“ nur noch aus Naturschutzgebieten kommen kann. Ein solches Reservat ist das Gebiet um die Insel Con Dao, das vor einigen Jahren vom Technikkonzern DIANIMA gekauft und abgeriegelt wurde. Natürlich nicht ganz uneigennützig, vermuten die Verantwortlichen dort doch die Möglichkeit, dass hinter den Gespenstergeschichten der Einheimischen weit mehr steckt – z. B. eine hochentwickelte Krakenpopulation. Deshalb sollen Ha Nguyen, eine Meeresbiologin, und Evrim, der erste und einzige Androide des Planeten, ein Team bilden und eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme entwickeln. Dabei müssen sie jedoch nicht nur das physikalische Gesetz vom Beobachter, der sein Beobachtungsobjekt beeinflusst beachten, sondern auch die Tatsache, dass sie selbst im Fokus einer ganzen Schar (teilweise sogar feindlich gesinnter) Beobachter stehen.

Nayler packt diesen Plot in eine personenreiche und teilweise spektakuläre Handlung. Die unterschiedlichsten Parteien versuchen Einfluss auf das Gesehen auf Con Dao zu nehmen: fehlgeleitete Tierschützer, Piraten, konkurrierende Firmen, heimwehkranke Taucher, verzweifelte Fischer, buddhistische Roboter-Mönche und ein ausgefuchster Hacker machen sich auf den Weg oder sind bereits vor Ort. Allerdings geht die größte Gefahr manchmal auch von einer Person aus, der alle unbedingt vertrauen …

Die 460 Seiten vergehen wie im Flug, die Informationen über Kraken, die geschickt eingestreut werden, scheinen hervorragend recherchiert und dass es unter Umständen eine gute Idee wäre, sich nicht mit der Gattung Mensch einzulassen, würden bestimmt eine ganze Reihe der von uns ausgerotteten Spezies unterschreiben. Allerdings lässt Nayler seinen Leser*innen am Ende noch die Hoffnung auf eine positive Wendung.

Horst Illmer

Ray Nayler
DIE STIMME DER KRAKEN. Roman.
Ü: Benjamin Mildner
(THE MOUNTAIN IN THE SEA / 2022)
Stuttgart, Tropen, 2024, 461 S.
ISBN 978-3-608-50013-4 / 26,00 Euro

Es gibt immer noch Bücher, denen ich beim ersten Blick darauf voll auf den Leim gehe, also sofort weiß, worum es geht – und dann bei der Lektüre feststelle, dass ich komplett danebenliege. So jetzt bei DIE STIMME DER KRAKEN, dem Erstlingsroman des Kanadiers Ray Nayler.

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Die Sterne leuchten am Erdenhimmel

von am 22. Mai 2024 Kommentare deaktiviert für Die Sterne leuchten am Erdenhimmel

Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann & Jeawon Nielbock-Yoon (Hrsg.)
DIE STERNE LEUCHTEN AM ERDENHIMMEL.
Science Fiction aus Südkorea.
Ü: Alexandra Dickmann u.a.
Ill. : Daniel Lozano
Originalausgabe
Berlin, Memoranda, 2024, 201 S.
ISBN 978-3-948616-96-0 / 22,00 Euro

Im Laufe der letzten paar Jahre rückte nicht nur China ins Scheinwerferlicht der Genreliteratur-Lesenden und zeigte die erstaunliche Vielfalt und Qualität seiner Science Fiction, auch das wesentlich kleinere Südkorea trat aus dem Schatten der übermächtig scheinenden angloamerikanischen Veröffentlichungen. Nachdem nun bereits eine ganze Reihe Science-Fiction-Romane südkoreanischer Autor*innen veröffentlicht wurden, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis endlich auch die Kurzform zu ihrem Recht kommen würde.
Im Berliner Memoranda Verlag erschien jetzt, herausgegeben von Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann und Jeawon Nielbock-Yoon, mit DIE STERNE LEUCHTEN AM ERDENHIMMEL eine erste Anthologie mit sieben Science-Fiction-Stories aus Südkorea, allesamt deutsche Erstveröffentlichungen.

Auf den ersten Blick sagten mir die Namen über den Geschichten nichts (meiner Ignoranz geschuldet, natürlich), aber zumindest Kim Bo-Young und Bora Chung scheinen bereits international einiges Ansehen zu genießen, von Chung erschien 2023 mit DER FLUCH DES HASEN (Culturebooks) auch schon eine Storysammlung auf Deutsch. Davon abgesehen sind es ja auch die Stories selbst, die ihre Leserschaft überzeugen und begeistern müssen, andernfalls bleibt selbst ein so engagiertes Projekt nur eine Sternschnuppe.

Die sieben Stories handeln von sehr unterschiedlichen Themen, manche ähneln klassischer Golden-Age-SF aus Amerika, manche lesen sich wie moderne Märchen, andere wie Berichte vom ganz normalen Leben eines Menschen unserer Zeit – aber jede einzelne enthält ein überraschendes Moment, einen „turn“, der aufzeigt, dass mitteleuropäische Vorstellungen (oder auch ganz allgemein „menschliche“) manchmal nur Vorurteile sind, die wir zum Verständnis der Erzählung über Bord werfen müssen.

Begleitet werden die Texte von sehr schönen Illustrationen von Daniel Lozano, von dem auch das Umschlagbild stammt. Was die Übersetzungen angeht, muss der Vergleich mit den Originalen hier ausfallen; trotzdem darf konstatiert werden, dass sich die Texte allesamt flüssig lesen lassen und nicht mehr Irritationen aufweisen als von Übersetzungen aus dem Englischen gewohnt. Insoweit ist DIE STERNE LEUCHTEN AM ERDENHIMMEL als eine mehr als gelungene Geschichtensammlung zu bezeichnen.
Davon bitte gerne mehr.

Horst Illmer

Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann & Jeawon Nielbock-Yoon (Hrsg.)
DIE STERNE LEUCHTEN AM ERDENHIMMEL.
Science Fiction aus Südkorea.
Ü: Alexandra Dickmann u.a.
Ill. : Daniel Lozano
Originalausgabe
Berlin, Memoranda, 2024, 201 S.
ISBN 978-3-948616-96-0 / 22,00 Euro

Im Laufe der letzten paar Jahre rückte nicht nur China ins Scheinwerferlicht der Genreliteratur-Lesenden und zeigte die erstaunliche Vielfalt und Qualität seiner Science Fiction, auch das wesentlich kleinere Südkorea trat aus dem Schatten der übermächtig scheinenden angloamerikanischen Veröffentlichungen.

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Wolfszone

von am 15. Mai 2024 Kommentare deaktiviert für Wolfszone

Christian Endres
WOLFSZONE. Cyberthriller.
München, Heyne, 2024, 510 S.
ISBN 978-3-453-27471-6 / 20,00 Euro

Als der Berliner Privatermittler Joe Denzinger den anonymen Anruf auf seinem Smartphone entgegennimmt, denkt er zuerst, dass ihn jemand verschaukeln will. Ausgerechnet die reichste Frau Deutschlands will sich mit ihm treffen? Will ihn womöglich sogar engagieren. Er kann’s nicht glauben. Doch Auftraggeberin und Auftrag sind echt: Lisa, die Tochter von Sylvia Kraupen ist seit ein paar Tagen verschwunden und Joe soll sie suchen und finden. Und vor allem kein Aufsehen erregen. Denn die Firma von Frau Kraupen stellt Waffen und Material für die Bundeswehr her und ist eine mehr als nur „interessierte“ Partei beim ersten großen Inlands-Kampf-Einsatz, den die Soldaten im Osten Deutschlands als Schutztruppe rund um ein Cyborg-Wolfs-Reservat durchführen.

Dort, im Wald bei Dölmow, stehen sich die unversöhnlichen Lager der Pro-Wolf-Aktivisten und der „Macht-die-Viecher-platt“-Bewegung gegenüber und die Bundeswehr hat am Rand der Sperrzone Stellung bezogen und hält den derzeitigen, für alle Seiten gleichermaßen unbequemen wie unbefriedigenden Status Quo aufrecht.

Natürlich war die rebellische Lisa im Lager der Tierfreunde und Militär-Gegner unterwegs als der Kontakt abbrach, aber ihre Mutter möchte trotzdem wissen, ob es ihr gut geht. Also zieht Joe los, um ein wenig Babysitter zu spielen.

Wie falsch er die Situation eingeschätzt hat, wie tief er in die ihm als Stadtmensch fremde Welt einer verschworenen Dorfgemeinschaft eintauchen muss, wie wenig er über die Struktur einer militärischen Operation weiß, wie sehr ihn ein einziger Blick in die Augen einer freischaffenden Journalistin aus dem Konzept bringt, das erschließt sich Joe bereits während der ersten ein, zwei Tage vor Ort – was ihn aber nicht daran hindert, den Karren wortwörtlich in den Graben zu fahren …

Die actionreiche Handlung in und um Dölmow wird zwar überwiegend aus Joes Sicht erzählt, aber Endres nutzt geschickt eine Vielzahl an Nebenfiguren und eine rasante, filmreife Schnitttechnik, um Hintergründe und Biografien zu erklären, über die Joe nichts wissen kann, oder um multiperspektivisch zu zeigen, welche Auswirkungen einzelne Handlungen über das Offensichtliche hinaus haben. Dabei gelingt ihm sogar das Kunststück, den inneren Monolog eines der Cyber-Wölfe so glaubwürdig darzustellen, dass auch dessen Sichtweise auf seine Handlungen nachvollziehbar wird.

Das Tempo ist von Beginn an hoch, wird aber nach dem Tod des ersten Opfers in der Mitte des Romans noch einmal deutlich gesteigert. Tatsächlich nimmt auch die Spannung mit jeder Seite zu, und wer nicht weiß, was ein „Pageturner“ ist, kann das hier am eigenen Leib erfahren.
Endres hat mit seinem Privatermittler Joe Denzinger einen sympathisch-unvollkommenen Protagonisten erschaffen, der mehr von den Ereignissen getrieben wird, als dass er sie mit seinen Ermittlungen vorantreibt. Vielleicht gerade deshalb gelingt es ihm, nicht nur aus verstockten Reichsbürgern, trotzigen Drogenschmugglern und biestigen Hotelbesitzerinnen brauchbare Informationen herauszulocken, sondern auch ziemlich schnell die Herzen der Leser*innen zu gewinnen. Abgehalfterte, zynische Kotzbrocken gibt es nicht nur in amerikanischen Krimis und deutschen TV-Serien mehr als genug – da tut so eine reflektierte (und hin und wieder auch mal romantische) Persönlichkeit richtig gut.

Mit WOLFSZONE hat Christian Endres seinen bisher besten Roman vorgelegt. Dass ihn Andreas Eschbach, Brandon Q. Morris und Andreas Brandhorst dafür schätzen und in ihrer Liga willkommen heißen, ist nachvollziehbar und berechtigt. Große Unterhaltung!

Horst Illmer

Christian Endres
WOLFSZONE. Cyberthriller.
München, Heyne, 2024, 510 S.
ISBN 978-3-453-27471-6 / 20,00 Euro

Als der Berliner Privatermittler Joe Denzinger den anonymen Anruf auf seinem Smartphone entgegennimmt, denkt er zuerst, dass ihn jemand verschaukeln will. Ausgerechnet die reichste Frau Deutschlands will sich mit ihm treffen? Will ihn womöglich sogar engagieren. Er kann’s nicht glauben. Doch Auftraggeberin und Auftrag sind echt: Lisa, die Tochter von Sylvia Kraupen ist seit ein paar Tagen verschwunden und Joe soll sie suchen und finden.

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Wenn das der Führer wüsste

von am 8. Mai 2024 Kommentare deaktiviert für Wenn das der Führer wüsste

Otto Basil
WENN DAS DER FÜHRER WÜSSTE. Roman.
Wien, Milena, 2024, 400 S.
ISBN 978-3-9034-6028-7 / 26,00 Euro
Hardcover

Noch ein Buch über Hitler, zudem ein Science-Fiction-Roman, und eine Satire soll es auch noch sein. Das Thema „Nazi-Zeit“ hat ja eigentlich immer Hochkonjunktur. Gibt es da überhaupt noch etwas Neues (oder wenigstens Originelles) nach Science-Fiction-Romanen von Philip K. Dick, Norman Spinrad, Len Deighton u. v. a.?
Dazu solle man wissen, dass das Buch von Otto Basil schon 1966 geschrieben wurde, also eher als Vorläufer zu betrachten ist, keinesfalls als epigonal.

Basil beschreibt aus der Sicht des kleinen Parteigenossen Albin Totila Höllrigel eine Welt, wie sie nach dem Sieg Hitler-Deutschlands im 2. Weltkrieg aussehen könnte.

Der Krieg wurde gewonnen, weil Deutschland die „Bombe“ rechtzeitig entwickelte und sie gegen England einsetzte. In den USA und anderen amerikanischen Staaten haben sich faschistische Diktaturen etabliert, die mit dem Reich kooperieren. Japan, ebenfalls Gewinner des Krieges, hält Asien, Australien und den Ostteil der ehemaligen Sowjetunion besetzt. Dieser Status Quo besteht solange Hitler lebt. Doch mit seinem Tod beginnt das Reich zu zerfallen, die Bündnispartner wenden sich vom Reich ab. Und Japan sieht seine Chance, auch den Rest der Welt zu unterwerfen.

Die Welt treibt also auf einen 3. Weltkrieg zu, als Höllrigels Odyssee beginnt, während der er in die Kreise von Widerstandsgruppen im Harz gerät, durch den Abwurf einer japanischen Atombombe strahlenverseucht wird, den Bürgerkrieg bei der Beisetzung des Führers miterlebt und sich auf einmal auf dem Weg nach Alaska befindet. Dort haben Parteibonzen ein Lager errichtet, von dem aus die „Elite des Volkes“ in ein arktisches „Paradies“ weiterreist, in dem ein Überleben des Krieges möglich sein soll …

Otto Basil (1901–1983) war ein österreichischer Literat und Journalist. Sein bissig-ironischer Stil ist nicht unbedingt flüssig zu lesen, zwingt aber gerade dadurch zu erhöhter Konzentration und zur Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Begeistert ist man von diesem Roman nicht, kann man nicht sein, zu oft bleibt das Lachen im Halse stecken. Zu entsetzlich ist das Bild, das Basil zeichnet. Der Inhalt jedoch ist zeitlos, heute so gültig wie 1966. Der Autor zeigt sich als weitsichtiger Warner vor den Gefahren jeder politisch extremen Richtung.

Horst Illmer

Otto Basil
WENN DAS DER FÜHRER WÜSSTE. Roman.
Wien, Milena, 2024, 400 S.
ISBN 978-3-9034-6028-7 / 26,00 Euro
Hardcover

Noch ein Buch über Hitler, zudem ein Science-Fiction-Roman, und eine Satire soll es auch noch sein. Das Thema „Nazi-Zeit“ hat ja eigentlich immer Hochkonjunktur. Gibt es da überhaupt noch etwas Neues (oder wenigstens Originelles) nach Science-Fiction-Romanen von Philip K. Dick, Norman Spinrad, Len Deighton u. v. a.?
Dazu solle man wissen, dass das Buch von Otto Basil schon 1966 geschrieben wurde,

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phantastisch! 94

von am 29. April 2024 Kommentare deaktiviert für phantastisch! 94

Klaus Bollhöfener (Hrsg.)
phantastisch! 94
Ausgabe 2/2024
Seit Januar 2001 das Magazin für Science Fiction, Fantasy & Horror
Stolberg, Atlantis Verlag, 84 Seiten / 7,95 Euro

Der zigarettenrauchende Roboter-Priester (herausragend gezeichnet von Dirk Berger), der den Umschlag der phantastisch!-Ausgabe 2/2024 schmückt, passt zwar hervorragend zum derzeitigen „der-Frühling-der-ein-Winter-werden-wollte“-Wetter, aber der Inhalt des neuen 84-Seiten-Heftes ist schon sehr gut geeignet, das Herz zu erwärmen und ganz allgemein Frühlings-Gefühle hervorzurufen. Nach drei lesenswerten Stories (von Lucy Guth, Marco Rauch und Markus K. Korb) sind es vor allem die Essays von Aiki Mira (über James Tiptree Jr.), Wolfgang Pippke (über Philosophie in der SF), Thilo Corzilius (über Leben in der Postapokalypse) und Achim Schnurrer (über Beuys und STAR TREK!), die Stoff zum Nachdenken anbieten und für Diskussionen sorgen werden. Die Interviews wurden diesmal nicht von, sondern mit Unterfranken geführt: Christian Endres und Chris Noeth dürfen über ihre aktuellen Neuerscheinungen plaudern.

Natürlich gibt es auch wie gewohnt Beiträge über phantastische Comics, Bücher und Filme, über Mulitmedia-Schauerromantik und einen sehr tiefen Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs. Ebenfalls im Programm: Cartoons, Comics und das allgemein beliebte „update“.

Auch beim 94. Mal ist das „Magazin für Science Fiction, Fantasy & Horror“ eine lohnenswerte Wundertüte, gefüllt mit vielen tollen Texten und Bildern. Extremempfehlung!

Horst Illmer

Klaus Bollhöfener (Hrsg.)
phantastisch! 94
Ausgabe 2/2024
Seit Januar 2001 das Magazin für Science Fiction, Fantasy & Horror
Stolberg, Atlantis Verlag, 84 Seiten / 7,95 Euro

Der zigarettenrauchende Roboter-Priester (herausragend gezeichnet von Dirk Berger), der den Umschlag der phantastisch!-Ausgabe 2/2024 schmückt, passt zwar hervorragend zum derzeitigen „der-Frühling-der-ein-Winter-werden-wollte“-Wetter, aber der Inhalt des neuen 84-Seiten-Heftes ist schon sehr gut geeignet, das Herz zu erwärmen und ganz allgemein Frühlings-Gefühle hervorzurufen. Nach drei lesenswerten Stories (von Lucy Guth,

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Moebius Zeichenwelt

von am 22. April 2024 Kommentare deaktiviert für Moebius Zeichenwelt

Andreas Platthaus
MOEBIUS ZEICHENWELT.
Mit mehr als 250 meist unveröffentlichten Bildern.
Berlin, Aufbau Verlag, Die Andere Bibliothek, 2023, 300 S.
ISBN 978-3-8477-2044-7 / 28,00 Euro

„Wer ist Moebius?“
Dieser schnell gestellten, jedoch nur schwer zu beantwortenden Frage, nimmt sich der FAZ-Redakteur Andreas Platthaus in einem umfangreichen biographischen Essay an. Er beginnt mit der für den französischen Künstler Jean Giraud alias Moebius so wichtigen Schlüsselszene in einer Kneipe in der mexikanischen Wüste, als der 17-jährige die Horizontlinie in der offenen Tür der Bar als „sein“ Stilelement erkannte. Der weitere Weg des Zeichners stand im Zeichen des Möbiusbandes und der Janusköpfigkeit.

Ersten Veröffentlichungen, die er als Moebius signierte, stellte sich plötzlich der für zehn lange Jahre (1963–1973) alles andere zurückdrängende Welterfolg BLUEBERRY in den Weg, den er unter seinem bürgerlichen Namen zeichnete. Erst in der Mitte der 70er Jahre begann sich „Moebius“ wieder zu regen. Er war der Revolutionär, der alle klassischen Zeichenstile über Bord warf und dem amerikanischen „Underground“-Comic eine europäische Variante an die Seite stellte. Gemeinsam mit Zeichnern wie Robert Crumb erneuerte Moebius das zur reinen Kinderunterhaltung degenerierte Medium Comic. Und seither lebten – ach – zwei Seelen in einer Brust.

Wie Giraud diesen Zwiespalt für sich in künstlerische Höchstleistungen umzusetzen vermochte, verdeutlichen auch die vielen, teils farbigen Bilder, die das Buch zieren. Das Herzstück ist „Fumetti“, ein bisher unveröffentlichter autobiographischer Comic von Moebius, in dem der müde gewordene Zeichner Giraud von einigen seiner Schöpfungen heimgesucht wird, die sich Sorgen um ihr Fortbestehen machen. Am Ende dieser einhundert Seiten steht dann aber ein optimistisches und für das Medium typisches „Fortsetzung folgt …“

Daran anschließend begutachtet Platthaus in einem fulminanten Rundumschlag das „Leben nach dem Tod des Comics“. Er beginnt bei den Wurzeln, den ersten Zeitungs-Bildergeschichten, die am Ende des 19. Jahrhunderts erschienen, springt über die Superhelden- und Micky-Maus-Comics der letzten hundert Jahre direkt ins postmoderne 3. Jahrtausend: Welche Möglichkeiten und Chancen hat der Comic noch?

Jean Henry Gaston Giraud, der seine Werke mit „Gir“ oder „Moebius“ unterzeichnete, lebte von 1938 bis 2012. Er zeichnete Western- und Science-Fiction-Comics von unerreichter Eleganz und Pracht. Er illustrierte eine Vielzahl von Büchern klassischer und moderner Autoren. Er prägte über Jahrzehnte das Erscheinungsbild der europäischen Comics. Ihn einmal ausführlich vorzustellen und zu würdigen war mehr als notwendig – Andreas Platthaus hat dies in MOEBIUS ZEICHENWELT mustergültig getan!

Horst Illmer

Andreas Platthaus
MOEBIUS ZEICHENWELT.
Mit mehr als 250 meist unveröffentlichten Bildern.
Berlin, Aufbau Verlag, Die Andere Bibliothek, 2023, 300 S.
ISBN 978-3-8477-2044-7 / 28,00 Euro

„Wer ist Moebius?“
Dieser schnell gestellten, jedoch nur schwer zu beantwortenden Frage, nimmt sich der FAZ-Redakteur Andreas Platthaus in einem umfangreichen biographischen Essay an. Er beginnt mit der für den französischen Künstler Jean Giraud alias Moebius so wichtigen Schlüsselszene in einer Kneipe in der mexikanischen Wüste, als der 17-jährige die Horizontlinie in der offenen Tür der Bar als „sein“ Stilelement erkannte.

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Biokrieg

von am 17. April 2024 Kommentare deaktiviert für Biokrieg

Paolo Bacigalupi
BIOKRIEG. Roman.
Übersetzung: Hannes Riffel und Dorothea Kallfass
(THE WINDUP GIRL / 2009)
München, Heyne, 2019, 608 S.
ISBN 978-3-453-32011-6 / 10,99 Euro
Meisterwerke der Science Fiction

Bangkok, Thailand – für Europäer seit Jahrhunderten der Inbegriff des Exotischen, Fremden. Daran hat sich auch in Bacigalupis Zukunftsversion wenig geändert: In einer völlig aus den Fugen geratenen Welt voller furchtbarer Hungersnöte, ausgelöst unter anderem durch gentechnisch veränderte und außer Kontrolle geratene Pflanzenschädlinge, in die Welt gesetzt von skrupellosen Konzernen, die damit ihre Gewinne maximieren wollten, und mit einem durch die Klimaveränderung deutlich gestiegenen Meeresspiegel und unvorhersehbaren Wetterkapriolen, versuchen seine Protagonisten, in dem undurchschaubaren Machtgefüge der Multimillionen-Stadt am Leben zu bleiben und zurecht zu kommen.

Am besten gelingt dies noch Anderson Lake, einem mit allen Wassern gewaschenen hochrangigen Mitarbeiter von AgriGen, einem der größten Nahrungsproduzenten der Welt. Allerdings dient die Spannfederfabrik, die AgriGen in Bangkok zu Forschungszwecken betreibt, nur Andersons Tarnung. In Wirklichkeit ist er einer der weltweit gefürchteten und gehassten „Kalorienjäger“ und bereit, für den Zugang zu den thailändischen Genlabors und ihren Samenbänken über Leichen zu gehen – wenn es sein muss, über sehr viele Leichen.

Seine Gegenspieler sind weniger die führenden Leute in der thailändischen Politik, sondern eine nationalistische Gruppe um den unbestechlichen Hauptmann Jaidee, die sogenannten Weißhemden, die versuchen, den Einfluss der Fremden, der „Farang“, zurückzudrängen. Jaidee weiß, dass er sich damit jede Menge Feinde einhandelt, doch der „Tiger“ setzt auf seine Popularität beim thailändischen Volk. Es ist schließlich ausgerechnet seine einzige Vertraute und Stellvertreterin Kanya, die auf der Gehaltsliste des Gegners steht und seinen Untergang herbeiführt.

Mit dem Exil-Chinesen Hock Seng, ehemals einer der reichsten Männer der Welt und nun als geduldeter „Yellow Card“-Hilfsarbeiter für Anderson tätig, und der zur Prostitution gezwungenen Emiko, einem japanischen „Aufziehmädchen“, hat Bacigalupi zwei weitere, bemerkenswerte Charaktere in die Handlung eingebaut. Während Hock Seng alles daran setzt, die Konstruktionspläne der Spannfedern aus der Fabrik zu entwenden und zu Geld zu machen, gelingt es Emiko, mehr durch Zufall, Andersons Interesse zu wecken und ihn für sich einzunehmen.

Überhaupt stellt Emiko das faszinierendste Element in BIOKRIEG, Bacigalupis mit Preisen überhäuftem Erstlingsroman, dar. Sie gehört zu den „Neuen Menschen“, im Labor gezüchteten und gentechnisch optimierten Wesen, die ihren Schöpfern in fast allen Belangen überlegen sind – und deshalb mit eingebauten Sperren und Konditionierungen (wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit und dem Verlangen, einem Meister zu dienen) ausgeliefert werden. Wobei „ausgeliefert“ für Emiko in mehrfacher Hinsicht zutrifft. Sie wurde als „Ballast“ von ihrem japanischen Erstbesitzer in Bangkok zurückgelassen, wo sie von den Einheimischen verabscheut und gefürchtet wird. Deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich in einem Sexclub allabendlich auf der Bühne vorführen zu lassen. Dabei sind es vor allem ihre (einprogrammierten) ruckartigen Bewegungen, die das „Aufziehmädchen“ (THE WINDUP GIRL lautet der amerikanische Originaltitel) für die Gäste zur exotischen Attraktion machen.

In der schwül-warmen Hitze des zukünftigen Bangkoks brodelt eine explosive Mischung aus Korruption, Gen-Spionage, Rassismus, Nationalismus und dem unbedingten Streben aller nach möglichst viel Gewinn – immer noch sind alle gefangen im Glauben an die alleinseligmachende Macht des Geldes. Doch in einer Stadt, die, umgeben von Deichanlagen, inzwischen zum größten Teil weit unterhalb des Meeresspiegels liegt, genügt ein winziger Funke, um die Katastrophe herbeizuführen.

Die erzählerische Kraft und Unbekümmertheit Paolo Bacigalupis ist bemerkenswert. Mit BIOKRIEG hat er eine exakt recherchierte und (leider) äußerst glaubwürdige Schwarze Utopie vorgelegt, die voll ist, mit jenen winzigen literarischen Preziosen, die aus einem guten Buch ein sehr gutes Buch machen. Dazu gehören die allgegenwärtigen Cheshire-Katzen, gentechnisch aufgerüstete Vorläufer der Neuen Menschen, die wegen fehlender Beschränkungen innerhalb kürzester Zeit alle normalen Katzen verdrängten. Oder die Figur des Gen-Ingenieurs Gibbons, der sich, trotz erheblicher körperlicher und charakterlicher Mängel, für eine Art Gottvater hält – und dessen Genius für alle Konfliktparteien so wichtig ist, dass sie ihn in diesem Glauben auch noch bestärken.

BIOKRIEG ist ein sehr unterhaltsamer und zum Nachdenken anregender Zukunftsroman, der eine nur noch schwer vermeidbare Entwicklung stringent weiterverfolgt und mit Bangkok einen faszinierenden Schauplatz wählt, der für westliche Leser oft so fremdartig wirkt wie ein ferner Planet. Unbedingt empfehlenswert!

Horst Illmer

Paolo Bacigalupi
BIOKRIEG. Roman.
Übersetzung: Hannes Riffel und Dorothea Kallfass
(THE WINDUP GIRL / 2009)
München, Heyne, 2019, 608 S.
ISBN 978-3-453-32011-6 / 10,99 Euro
Meisterwerke der Science Fiction

Bangkok, Thailand – für Europäer seit Jahrhunderten der Inbegriff des Exotischen, Fremden. Daran hat sich auch in Bacigalupis Zukunftsversion wenig geändert: In einer völlig aus den Fugen geratenen Welt voller furchtbarer Hungersnöte, ausgelöst unter anderem durch gentechnisch veränderte und außer Kontrolle geratene Pflanzenschädlinge,

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Berge Meere und Giganten

von am 3. April 2024 Kommentare deaktiviert für Berge Meere und Giganten

Alfred Döblin
BERGE MEERE UND GIGANTEN.
Nachwort: Gabriele Sander
Frankfurt, Fischer Taschenbuch, 2013, 656 S.
ISBN 978-3-596-90464-8 / 14,99 Euro

Alfred Döblin (1878–1957) war Arzt und zugleich einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Expressionismus, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterstücken und Reiseberichten sowie 1949 Mitbegründer der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Bekannt ist er noch heute vor allem durch seinen Roman BERLIN ALEXANDERPLATZ.

Vor genau einhundert Jahren, 1924, erschienenen sein einziger Zukunftsroman BERGE MEERE UND GIGANTEN, in dem Döblin vom Fortgang der Menschheitsgeschichte vom 23. bis ins 27. Jahrhundert berichtet. Das (in neun Großkapitel unterteilte) Buch widmet sich dabei, neben einer Vielzahl weiterer Themen, vor allem dem Verhältnis von Mensch und seiner Umwelt – ein Genre, das inzwischen als „climate fiction“ weltweit Bedeutung und Anerkennung gefunden hat. Allerdings schreibt Döblin radikaler und anspruchsvoller (und „politisch unkorrekter“) als die meisten Gegenwartsautor*innen.

Im 23. Jahrhundert haben „Die westlichen Kontinente“ die nationalen und rassischen Grenzen überwunden. Die Staatengebilde der alten Zeit haben sich aufgelöst, Völker und Nationen sind vermischt. Es herrscht jedoch keine utopische Egalität; „Herrenmenschen“ regieren in Stadtschaften wie London, Brüssel, Berlin oder New York über die „Massenmenschen“. Mittels eines Wissens- und Waffenmonopols halten einige wenige Herrscherfamilien die Massen in Schach. Eine totale Technisierung, gepaart mit der Auflösung der Landwirtschaft, führt zu großen Kon­flikten. Die Menschen verstehen sich nicht mehr als Teil der Natur. Künstliche Ernährung, allgemeine Arbeitslosigkeit, Lange­weile und der trotzdem vorhandene materielle Überfluss führen zu Massenpsychosen, Gewaltorgien, Zerstörungswut und undifferenziertem Hass. Um das Volk wieder ruhig zu stellen, muss ein Krieg her.

„Der uralische Krieg“ im 25. Jahrhundert lässt riesige Heerscharen gen Osten, nach Asien, zie­hen. Ausgestattet mit veralteten Waffen und von ihren Führern zynisch zu „Kanonenfutter“ erklärt, sollen sich die überschüssigen Energien so entladen. Dummerweise wollen die Asiaten aber keine Invasoren im Land und schlagen mit einer unerwarteten Wucht und gigantischen Kriegswaffen zurück. Die völlige Vernichtung Osteuropas und vieler Millionen Menschen sind das Ergebnis des Kriegszuges. Politische Erdbeben folgen dieser Wahnsinnsaktion.

Das dritte Buch „Marduk“ beschäftigt sich mit den Konse­quenzen: Marduk, Konsul von Berlin, wird wichtigste Kraft im politischen Leben der Welt. Er entmachtet „die Täuscher“ und versucht eine Synthese zwischen Technik und Natur. Es entspannt sich eine Auseinandersetzung zwischen Befürwortern des synthetischen Lebens und den Apologeten der Rückbesinnung, zwischen dem Hedonismus einer kleinen Oberschicht und dem Bedürfnis der Vielen nach Glück in einem selbstverantwortlichen, durch eigene Produktivität gestalteten Leben. Aber indem Marduk seinen Weg zur „Rettung“ der Menschen vor der Vernichtung durch die Technik mittels brutalster Methoden durchzusetzen versucht, scheitert er. Zuletzt vernichten ihn die Heere der angrenzenden Stadtschaften, welche seinem Treiben nicht mehr länger zuschauen mögen.

Wie alles Böse immer auch Gutes bewirkt, so war Marduks Wollen nicht folgenlos. „Das Auslaufen der Städte“ nennt Döblin die Rebellion der „Siedler“. Während die Städter immer mehr körperlich und geistig verkümmern, breiten sich auf den riesigen, seit Jahrhunderten leeren Landflächen verschiedenste Natur- und Siedlergruppen aus. Sie kehren zurück zum Kreatürlichen. Diese Fluchtbewegung, für die Stadtschaften ein langsames Ausbluten der Eliten, führt fast zum Zusammenbruch des bisher Erreichten. Wieder wird ein Plan ersonnen, durch den die Herrscher die Menschen kontrollieren können. Delvil, Delegierter der Stadt London, schlägt die Enteisung Grönlands vor. Mit diesem Menschheitsprojekt soll gleichzeitig die Degeneration der Städter gestoppt und die Siedlerbewegung kanalisiert und kontrolliert werden.

Delvils Plan gelingt. „Island“ ist das erste Ziel auf dem Weg zu neuem Lebensraum. Erfasst von Pioniertaumel, versehen mit den neuesten technischen Errungenschaften folgen die Menschen dem Wissenschaftler Kylin ins Nordmeer. Islands Vulkane werden gesprengt, die gigantischen Naturkräfte werden in „Turmalin“-Netzen gespeichert. In dieser ersten Etappe scheint der Plan übermäßig zu gelingen. Niemals fühlte sich der Mensch der Natur näher als beim Eindringen ins Erdinnere. Die unermesslichen Licht- und Hitzefelder, die „abgeerntet“ werden, führen trotz vieler tausend Opfer zu rauschhaften Zuständen bei den Arbeitern.

Als nun „Die Enteisung Grönlands“ beginnt, zeigen sich die ersten unerwarteten Nebenwirkungen. Die mit den Turmalinnetzen beladenen Schiffe werden zu Inseln wuchernder Fruchtbarkeit im eiskalten Norden. Im Packeis kreuzend und langsam auf Grönland zusteuernd wachsen richtige Tang-Wälder, in denen sich Vögel und anderes Getier niederlassen, auf den eisernen Schiffen. Ständig von Walen und Fischschwärmen umgeben erleben auch die Besatzungen einen Gemütszustand, der zu zügellosen sexuellen Ausschweifungen führt. Die Führer der Expedition, zusammengeschweißt von den gemeinsam überstandenen Gefahren, getrennt von den ideologischen und politischen Wurzeln der Städte, nähern sich in ihrer Einstellung den Siedlern immer mehr an. Doch gerade diese Weltsicht erlebt mit dem Beginn der Enteisungsaktion einen unerwarteten Rückschlag. Die Natur selbst wehrt sich. Vögel sterben, Wirbelstürme brechen über die Flotte herein, Angst und Entsetzen ergreift die Gemüter der Menschen, so dass sie in Panik fliehen. Erst viele Jahre später trauen sich einzelne Späher wieder an Grönland heran. Was sie sehen, ist unglaublich: Reptilien, Flugechsen ungeheure Drachenwesen haben ihren Jahrmillionenschlaf beendet und sind wieder lebendig. Und sie brauchen Raum! Eine Welle von hungrigen Kreaturen kommt auf Europa zu.

Unterdessen entdeckt man, dass die Turmalinschleier, welche für diese Entwicklung verantwortlich sind, noch weitere Kräfte enthalten. Alle Materie kann durch das Turmalin verbunden und verwandelt werden. Sofort werden Freiwillige, die sich opfern und bereit sind, mit Steinen und Tieren eine Synthese eingehen, als lebendiger Schutzwall gegen die Ungeheuer eingesetzt. Gleichzeitig beginnt der Rückzug der verunsicherten Menschheit unter die Erde. Die Städte und ihre Bewohner ziehen sich in die Tiefe zurück. Sie sind, bei völligem Erhalt ihres gewohnten Luxuslebens, nun nur noch Höhlenmenschen.

Ihre machtgierigen Führer verwandeln sich mittels Turmalin in „Giganten“. Diese riesigen Turmwesen verlieren ihre Menschlichkeit und halten sich immer mehr für Götter. Sie tummeln sich an der Oberfläche, veranstalten sinnlose Wettkämpfe und verfallen trotz ihrer Allmacht immer mehr ins Primitive. In einer „Götterdämmerung“ vernichten sie sich letztendlich selbst.

Übrig bleiben nur die Siedler, welche, geleitet von „Venaska“, ein auf die Natur ausgerichtetes Leben beginnen. Venaska ist eine Bekannte Kylins und trägt viele Züge der Göttin Venus in sich. Ihr Hauptwesenszug ist eine absolute Bejahung des Lebens und die Bereitschaft Liebe zu geben. Angesiedelt in den gemäßigten Zonen Südfrankreichs beginnen die Menschen ein neues Leben. Schließlich gesellen sich auch die Überlebenden der Grönlandexpedition zu ihnen. Geläutert durch die Ereignisse wagen sie einen Neubeginn.

Döblins Roman nimmt unter den literarischen Zukunftsvorstellungen einen herausragenden Platz ein. Wie kein zweiter Autor beherrscht er den lyrisch-expressiven Stil. Nie wurde der Gegensatz „Mensch – Natur“ intensiver untersucht, kaum jemals wurde der erzählerische Bogen vom Schicksal des Einzelnen bis zu einem den ganzen Planeten betreffenden Ereignis weiter gespannt. Während der Erzählung bleibt über lange Zeit unklar, auf welcher Seite die Sympathie des Autors liegt. Erst in der schlussendlichen Aussöhnung mit der Natur bekennt sich Döblin zur utopischen Tradition.

Horst Illmer

Alfred Döblin
BERGE MEERE UND GIGANTEN.
Nachwort: Gabriele Sander
Frankfurt, Fischer Taschenbuch, 2013, 656 S.
ISBN 978-3-596-90464-8 / 14,99 Euro

Alfred Döblin (1878–1957) war Arzt und zugleich einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Expressionismus, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterstücken und Reiseberichten sowie 1949 Mitbegründer der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Bekannt ist er noch heute vor allem durch seinen Roman BERLIN ALEXANDERPLATZ.

Vor genau einhundert Jahren, 1924, erschienenen sein einziger Zukunftsroman BERGE MEERE UND GIGANTEN,

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Der Ozean am Ende der Straße

von am 25. März 2024 Kommentare deaktiviert für Der Ozean am Ende der Straße

Neil Gaiman
DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE. Roman.
Übersetzung: Hannes Riffel, Illustrationen: Elise Hurst
(THE OCEAN AT THE END OF THE LANE / 2013)
Köln, Eichborn, 2021, 336 S.
ISBN 978-3-8479-0071-9 / 25,00 Euro

Es ist Sonntagnachmittag und draußen regnet es seit Stunden und es ist so dunkel, dass man drinnen fast Licht machen müsste, um zu lesen – aber es geht auch, wenn man sich ganz nah ans Fenster setzt –, und ich bin glücklich und zufrieden und wenn ich eine Katze wäre, würde ich jetzt schnurren, so gut fühlt es sich an, nach den letzten Seiten von Neil Gaimans Roman DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE das Buch zu schließen und vorsichtig wegzulegen.

In den letzten 48 Stunden war ich mit einigen ganz ungewöhnlichen Charakteren zusammen auf einer Farm in England und habe gespannt den Erinnerungen des Ich-Erzählers gelauscht, eines Mannes „im besten Alter“, der hier vor vielen Jahren als Siebenjähriger seine Ferien verbrachte und dabei die elfjährige Lettie Hempstock kennen lernte – die schon sehr lange Zeit elf Jahre alt war – und mit ihr gemeinsam ein Abenteuer erleben durfte, das sein weiteres Leben mehr prägte, als er glaubt und das er sich erst langsam wieder zusammenreimen muss, dort am Ufer eines Ententeiches sitzend, von dem Lettie behauptete, es sei ein Ozean.

DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE gehört zu jener Sorte von Büchern, die man in jedem Alter lesen kann – und vermutlich auch unabhängig vom Geschlecht – und die man gut auch an fast jeden Menschen verschenken kann, von dem man weiß, dass sie oder er Bücher liest. Allerdings sollte man niemals fragen, wie es gefallen hat. Denn, wie sagt Großmutter Hempstock so schön: „Verschiedene Leute erinnern sich an verschiedene Dinge und es gibt keine zwei Menschen, deren Erinnerung an etwas übereinstimmt, ob sie nun dabei waren oder nicht.“

Neil Gaiman ist als Autor so wenig zu greifen wie Stephen King. Beide haben als Genre-Autoren angefangen, sind inzwischen jedoch als Schriftsteller so weit gereift, dass ihnen keine Schublade mehr passt. Die Schatten, die sie mit ihren Büchern nunmehr zu werfen in der Lage sind, fallen hin und wieder sogar auf die Schreibtische der etablierten Literaturkritik, weshalb alle heiligen Zeiten auch im Feuilleton eine verwundert-begeisterte Besprechung erscheint, deren Tenor das immer gleiche „Ach, dass der so etwas Gutes zu schreiben vermag, hätte ich nicht gedacht!“ ist. Worüber wir Leserinnen und Leser der ersten Stunde, wir Fans von SANDMAN und NIEMALSLAND, von AMERICAN GODS und GRAVEYARD BOOK, die wir die wundervolle, mitreißende, begeisternde Prosa Neil Gaimans kennen, immer wieder nur amüsiert den Kopf zu schütteln vermögen.

Es ist immer noch das gleiche verregnete Wochenende, an dem ich DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE von vorne bis hinten durchgelesen habe und dann im Anschluss diesen Text in die Tasten klopfte – aber der Himmel klart langsam auf, die Sonne kämpft sich durch die Regenwolken, dabei kräftig vom Wind unterstützt, die nassen Straßen beginnen zu trocknen und bevor ich mir jetzt einen Tee bereite, mit „Milch und Zucker, wie es sich gehört“ und so „heiß und wunderbar stark, da würde ein Löffel drin stecken bleiben“, werde ich noch einen Spaziergang unternehmen. Nur um sicher zu gehen, dass der Ententeich auf der anderen Seite meines Dorfes noch so ruhig und friedlich daliegt, wie ich ihn in Erinnerung habe.

Horst Illmer

Neil Gaiman
DER OZEAN AM ENDE DER STRASSE. Roman.
Übersetzung: Hannes Riffel, Illustrationen: Elise Hurst
(THE OCEAN AT THE END OF THE LANE / 2013)
Köln, Eichborn, 2021, 336 S.
ISBN 978-3-8479-0071-9 / 25,00 Euro

Es ist Sonntagnachmittag und draußen regnet es seit Stunden und es ist so dunkel, dass man drinnen fast Licht machen müsste, um zu lesen – aber es geht auch, wenn man sich ganz nah ans Fenster setzt –,

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Erdling

von am 28. Februar 2024 Kommentare deaktiviert für Erdling

Emma Braslavsky
ERDLING. Roman.
Berlin, Suhrkamp, 2023, 425 Seiten
ISBN 978-3-518-43101-6
Hardcover / 26,00 Euro

Nur weil ich das Buch zu spät in die Hände bekommen und jetzt erst gelesen habe, ist die 1971 in Erfurt geborene, inzwischen in Berlin lebende, Emma Braslavsky mit ihrem im Dezember 23 veröffentlichten Roman, der den hübschen, sofort an Science Fiction erinnernden Titel ERDLING trägt, an einer Empfehlung im „Adventskalender“ der Romanboutique vorbeigeschrammt.

Braslavsky, die nicht nur Vorlagen für OSCAR-nominierte Filme schreibt und mehrere Literaturpreise gewonnen hat, ist spätestens seit ihrem im letztenJahr mit einem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichneten SF-Hörspiel DIE NACHT WAR BLEICH, DIE LICHTER BLINKTEN nicht mehr aus der deutschen Phantastik wegzudenken.

Wie sehr sie allerdings in dieses Genre „eingetaucht“ ist, wird erst bei der Lektüre von ERDLING so richtig klar. Nicht nur der Plot um eine von Aliens entführte Sahra Wagenknecht ist so außergewöhnlich und originell wie selten in der deutschen Science Fiction der letzten Jahrzehnte, auch der frech-direkte Stil ist ein Alleinstellungsmerkmal, und die Auswahl der Protagonist*innen und Schauplätze deuten auf ein vertieftes Studium der Geschichte des deutschsprachigen Zukunftsromans hin. So besucht die mit dem Auffinden der Entführten beauftrage Detektiv*in Emma Erdling, unterstützt unter anderem von Hanns Heinz Ewers (!), die von Johannes Kepler ersonnenen Mondbewohner ebenso wie die marsianischen Numen von Kurd Laßwitz, springt in der Zeit umher wie ein Flaschenteufelchen und diskutiert alternative Weltlinien mit Voltaire und Thomas Mann.

Diese Reise durch multiple Literatur-Universen gleicht einer ebenso wilden wie vergnüglichen Fahrt in einer Galaxien umspannenden Achterbahn. Da lässt sich auf „Thank you for traveling with me!“, Braslavskys letzten Satz im Buch, nur mit einem „Danke, dass wir dabei sein durften“ antworten.

Horst Illmer

Emma Braslavsky
ERDLING. Roman.
Berlin, Suhrkamp, 2023, 425 Seiten
ISBN 978-3-518-43101-6
Hardcover / 26,00 Euro

Nur weil ich das Buch zu spät in die Hände bekommen und jetzt erst gelesen habe, ist die 1971 in Erfurt geborene, inzwischen in Berlin lebende, Emma Braslavsky mit ihrem im Dezember 23 veröffentlichten Roman, der den hübschen, sofort an Science Fiction erinnernden Titel ERDLING trägt, an einer Empfehlung im „Adventskalender“ der Romanboutique vorbeigeschrammt.

Braslavsky, die nicht nur Vorlagen für OSCAR-nominierte Filme schreibt und mehrere Literaturpreise gewonnen hat,

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Ein Fluss so rot und schwarz

von am 14. Februar 2024 Kommentare deaktiviert für Ein Fluss so rot und schwarz

Anthony Ryan
EIN FLUSS SO ROT UND SCHWARZ. Roman.
Ü: Sara Riffel
(Red River Seven / 2023)
Stuttgart, Tropen, 2023, 269 S.
ISBN 978-3-608-50179-7 / 22,00 Euro

Anthony Ryan ist ein schottischer Schriftsteller, der seit einigen Jahren mit epischen Fantasy-Romanen (Die RABENSCHATTEN-Trilogie, DRACONIS MEMORIA, DER STÄHLERNE BUND) große Erfolge feiert. Im Herbst 2023 erschien jedoch im Tropen Verlag der Roman EIN FLUSS SO ROT UND SCHWARZ, der ganz offensichtlich keine Fantasy war, sondern wohl eher als Nach-Katastrophen-Thriller bezeichnet werden kann. (Außerdem hat das Buch nur 270 Seiten und keine Fortsetzung!)

Vermutlich wollte Ryan einfach einmal in andere Gefilde eintauchen und das ist ihm, so viel darf schon hier verraten werden, auf erstaunlich eindringliche Weise gelungen. Die Geschichte beginnt damit, dass jemand Selbstmord begeht und mit dem Knall seiner Pistole einen Mann weckt, der zuerst einmal feststellt, dass er weder weiß, wo er sich befindet, noch warum er da ist, und auch keine Ahnung hat, wie er heißt. Allerdings verrät ihm ein kurzer Rundblick und das Schwanken des Bodens, dass er sich auf einem Schiff befindet. Als er den Toten untersucht, stellt er fest, dass dieser die Tätowierung „Conrad“ auf dem Unterarm trägt. Bei ihm selbst steht da „Huxley“ – na, und als dann noch „Plath“, „Rhys“, „Pynchon“, „Golding“ und „Dickinson“ auftauchen, ist die Truppe vollständig. Dass sie alle nicht wissen wo und wer sie sind, deutet darauf hin, dass ihr Zusammentreffen nicht zufällig ist. Zudem fährt das Schiff, offenbar ferngesteuert, übers offene Meer. Sie finden an Bord jede Menge Waffen, Nahrung – und viele verschlossene Türen. Dann klingelt ein Satellitentelefon und eine synthetische Stimme gibt ihnen erste Anweisungen.

Offenbar müssen sie die Themse hinauf nach London fahren und dort eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Dabei erwarten sie diverse Hindernisse und Gefahren, über deren Beschaffenheit sie von der Telefonstimme jedoch nur spärliche Informationen erhalten. Aber es wird schnell klar, dass der Sprengstoff und die vielen Waffen nicht zufällig an Bord sind …

Bei dieser Art von literarischem Versteckspiel ist es für den Rezensenten immer schwer, die Balance zu finden zwischen dem, was auf gar keinen Fall verraten werden darf und den Informationen, mit denen Leserinnen und Leser neugierig gemacht werden. Also stelle ich mal folgende Behauptungen auf: EIN FLUSS SO ROT UND SCHWARZ ist ein überaus flottes, hervorragend konzipiertes Stück Abenteuerliteratur, angereichert mit einer sehr plastisch beschriebenen, unterhaltsamen und überraschenden Handlung und sechs (oder eigentlich sieben) klug charakterisierten Protagonist*innen.

Der Roman kommt nach 270 Seiten atemloser Spannung zu einem überraschenden, jedoch zufriedenstellenden Ende – und es sollte niemanden wundern, wenn es in naher Zukunft dazu einen Kinofilm oder eine Mini-Serie gibt.

Horst Illmer

Anthony Ryan
EIN FLUSS SO ROT UND SCHWARZ. Roman.
Ü: Sara Riffel
(Red River Seven / 2023)
Stuttgart, Tropen, 2023, 269 S.
ISBN 978-3-608-50179-7 / 22,00 Euro

Anthony Ryan ist ein schottischer Schriftsteller, der seit einigen Jahren mit epischen Fantasy-Romanen (Die RABENSCHATTEN-Trilogie, DRACONIS MEMORIA, DER STÄHLERNE BUND) große Erfolge feiert. Im Herbst 2023 erschien jedoch im Tropen Verlag der Roman EIN FLUSS SO ROT UND SCHWARZ, der ganz offensichtlich keine Fantasy war, sondern wohl eher als Nach-Katastrophen-Thriller bezeichnet werden kann.

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Dex & Helmling

von am 24. Januar 2024 Kommentare deaktiviert für Dex & Helmling

Becky Chambers
EIN PSALM FÜR DIE WILD SCHWEIFENDEN.
Dex & Helmling 1
Ü: Karin Will
(A Psalm for the Wild-Build / 2021)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 188 S.
ISBN 978-3-910914-10-0 / 18,00 Euro

 

EIN GEBET FÜR DIE ACHTSAM SCHREITENDEN.
Dex & Helmling 2
Ü: Karin Will
(A Prayer for the Crown-Shy / 2022)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 182 S.
ISBN 978-3-910914-12-4 / 18,00 Euro

Dem erfolgreichen ersten Programm des Carcosa Verlags (siehe dazu meine diversen Besprechungen in den letzten Monaten) folgten im Januar 2024 gleich zwei neue Bücher von Becky Chambers, die sowohl die Programmintentionen (topaktuelle Titel anstelle der großen Klassiker) als auch die Optik (Hardcover im Taschenbuchformat, farbig illustrierte Einbände) von Carcosa deutlich bereicherten.

Mit EIN PSALM FÜR DIE WILD SCHWEIFENDEN und EIN GEBET FÜR DIE ACHTSAM SCHREITENDEN liegen hier zwei in den USA äußerst erfolgreiche Novellen (die sich zu einem „Doppelroman“ ergänzen) der auch bei uns sehr erfolgreichen Autorin vor, in denen auf augenzwinkernd-humorvolle Weise die Utopie einer ökologisch und sozial erfolgreichen Mensch-Roboter-Natur-Beziehung beschrieben wird.

Die Story spielt auf einem bewohnten Mond, dessen Bewohner vor langer Zeit von ihren mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Robotern verlassen wurden und seither ihre Zivilisation zu einem gewissen Einklang mit ihrer Umwelt entwickelt haben. Auf einer Selbstfindungsreise in die Wildnis trifft Teemönch Dex überraschend auf Helmling, einen Roboter, der sich als Begleiter anbietet …

Die Übersetzung von Karin Will nimmt dabei gekonnt die genderspezifisch-sprachlichen Besonderheiten von Chambers’ Original auf und transformiert die Erzählung in ein schlüssiges (und flüssiges) Deutsch, das bereits nach wenigen Seiten zum Genuss des Textes beiträgt. Wie immer bei Becky Chambers bewirkt bereits der erste Satz einen Sog, der ihre Leser*innen erst nach der letzten der zusammen fast 400 Seiten wieder loslässt.

Deshalb meine Empfehlung: gleich beide Bändchen besorgen und die dafür nötige Zeit einplanen!

Horst Illmer

Becky Chambers
EIN PSALM FÜR DIE WILD SCHWEIFENDEN.
Dex & Helmling 1
Ü: Karin Will
(A Psalm for the Wild-Build / 2021)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 188 S.
ISBN 978-3-910914-10-0 / 18,00 Euro

 

EIN GEBET FÜR DIE ACHTSAM SCHREITENDEN.
Dex & Helmling 2
Ü: Karin Will
(A Prayer for the Crown-Shy / 2022)
Wittenberge, Carcosa, 2024, 182 S.
ISBN 978-3-910914-12-4 / 18,00 Euro

Dem erfolgreichen ersten Programm des Carcosa Verlags (siehe dazu meine diversen Besprechungen in den letzten Monaten) folgten im Januar 2024 gleich zwei neue Bücher von Becky Chambers,

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Handbuch der Planeten

von am 8. Januar 2024 1 Kommentar

Gunther Barnewald
HANDBUCH DER PLANETEN.
Reiseführer durch die Welten von Jack Vance.
Vorwort: Denis Scheck
Erkrath, Fanpro, 2023, 271 S.
ISBN 978-3-946502-03-6 / 49,80 Euro
Hardcover

Mein guter Freund Zufall stieß mich kürzlich bei Korrektur-Lese-Arbeiten auf ein bereits im Sommer 2023 erschienenes Sachbuch, das – wohl vor allem wegen seines Titels – sicher auch vielen sonst daran Interessierten bisher entgangen sein dürfte: Es handelt sich dabei um das HANDBUCH DER PLANETEN von Gunther Barnewald. Erst der Untertitel „Reiseführer durch die Welten von Jack Vance“ weist den Blick in die richtige Richtung. Es handelt sich nicht etwa um ein Hilfsmittel zur Astronomie unseres Sonnensystems, sondern um ein 270 Seiten starkes Kompendium zu Leben und Werk des US-amerikanischen Science-Fiction- und Fantasy-Großmeisters Jack Vance – im Format DIN A4 und mit einem Vorwort von Denis Scheck! Aufgeteilt in 16 reich bebilderte Kapitel betrachtet Barnewald jede Story und jeden Roman von Vance, inklusive pseudonymer Werke, gibt einen biografischen Abriss und versucht in mehreren Essays eine literaturgeschichtliche Einordnung. Ergänzend angefügt ist ein umfangreiches Interview mit dem Autor, und in der Abteilung „Anhänge“ finden wir Zeittafeln, Bibliografien, Personen- und Titelregister.

Mit diesem Buch haben deutschsprachige Jack Vance-Fans und -Forscher endlich ein Standardwerk zur Verfügung, das keine Wünsche mehr offen lässt.

Horst Illmer

Gunther Barnewald
HANDBUCH DER PLANETEN.
Reiseführer durch die Welten von Jack Vance.
Vorwort: Denis Scheck
Erkrath, Fanpro, 2023, 271 S.
ISBN 978-3-946502-03-6 / 49,80 Euro
Hardcover

Mein guter Freund Zufall stieß mich kürzlich bei Korrektur-Lese-Arbeiten auf ein bereits im Sommer 2023 erschienenes Sachbuch, das – wohl vor allem wegen seines Titels – sicher auch vielen sonst daran Interessierten bisher entgangen sein dürfte: Es handelt sich dabei um das HANDBUCH DER PLANETEN von Gunther Barnewald.

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Adventskalender 2023 T-04: Das Science Fiction Jahr

von am 20. Dezember 2023 Kommentare deaktiviert für Adventskalender 2023 T-04: Das Science Fiction Jahr

Melanie Wylutzki & Hardy Kettlitz
DAS SCIENCE FICTION JAHR 2023.
Berlin, Hirnkost, 2023, 620 S.
ISBN 978-3-98857-033-8, 32,00 Euro
Klappenbroschur

Na also: Immer noch deutlich vor dem Jahresende und in der inzwischen gewohnten massiven Klappenbroschur mit den astronomischen Aufnahmen auf Vorderdeckel und Rücken liegt DAS SCIENCE FICTION JAHR 2023 vor mir. Auch diese inzwischen 38. Ausgabe des nach wie vor unverzichtbaren Almanachs wurde von Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz zusammengestellt und wie immer kann es sich sehen lassen, was die 38 Beitragenden im letzten Jahr so alles gelesen, gesehen, geschrieben, gehört, gespielt und gesammelt haben.

Natürlich gibt es wie immer die großen Abteilungen mit Übersichten und Kritiken über die neu erschienen und produzierten Bücher, Filme, Hörspiele, TV-Serien, Comics und Spiele, dann die Statistik-Ecke mit den Nachrufen, den weltweit verliehenen Preisen und der Bibliografie der in deutscher Sprache veröffentlichten Science-Fiction-Bücher.

Speziell in diesem Jahr ist das „Feature“ mit einem Dutzend Artikeln zu „Alternativer Geschichtsschreibung“ und „Pazifismus“; und aus gegebenem Anlass hat Hans Esselborn einen Schwerpunkt zum Tod von Herbert W. Franke erstellt. Mir ganz besonders gefallen hat diesmal der Essay „Die Schönheit des Unterschieds. Ursula K. Le Guin und die Ethnologie“ von Guido Sprenger, der damit knapp vor den Artikeln über Philip K. Dick bzw. Eric Frank Russell, bzw. H. G. Wells lag.

Und da ich den Rest erst im Lauf der nächsten Monate lesen werde, kann sich da auch noch was verschieben …

Horst Illmer

Melanie Wylutzki & Hardy Kettlitz
DAS SCIENCE FICTION JAHR 2023.
Berlin, Hirnkost, 2023, 620 S.
ISBN 978-3-98857-033-8, 32,00 Euro
Klappenbroschur

Na also: Immer noch deutlich vor dem Jahresende und in der inzwischen gewohnten massiven Klappenbroschur mit den astronomischen Aufnahmen auf Vorderdeckel und Rücken liegt DAS SCIENCE FICTION JAHR 2023 vor mir. Auch diese inzwischen 38. Ausgabe des nach wie vor unverzichtbaren Almanachs wurde von Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz zusammengestellt und wie immer kann es sich sehen lassen,

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Adventskalender 2023 T-21: Neurobiest von Aiki Mira (by Horst)

von am 3. Dezember 2023 Kommentare deaktiviert für Adventskalender 2023 T-21: Neurobiest von Aiki Mira (by Horst)

GerdWie schon den gestrigen Beitrag möchte ich euch auch diesen nicht nicht vorenthalten. An dieser Stelle ziehe ich auch gleich vorauseilend meinen Hut vor Horst. Die heutige Doppelung meines Beitrags vom 18. Oktober ist wieder einmal sensationell. Als Titel sowieso, aber auch als Rezension.

Der Roman hat es mehr als verdient auch an dieser Stelle im Adventskalender erneut aufzutauchen. Dass Horsts Rezi dabei eine ganz eigene Qualität in sich birgt, erhöht den Wert noch zusätzlich. Im Grunde ist es einfach auf den Punkt zu bringen. Wir schwärmen beide, wenn auch in unterschiedlichen Worten. Lest heute die Adventsschwärmerei von Horst:

Aiki Mira
NEUROBIEST.
Bremen, Eridanus, 2023, 335 S.
ISBN 9783-3946348-39-9
Kartoniert / 16,00 Euro

Der von Charles Darwin ins Menschheitsbewußtsein eingeprägte Begriff der Evolution erweist sich als immer noch nicht ausgeschöpfte Quelle vielgestaltiger Möglichkeiten der Naturerkenntnis und greift inzwischen über das Materielle hinaus auch ins Imaginäre.

Mit welch anderem Beiwort sonst wäre Aiki Miras scheinbar unerschöpflich fließendes Schreiben zu erklären, in dem die Geschichten so unterschiedlich sind wie nur möglich sind und die Bücher wie Zellbausteine aufeinander aufbauen, dabei einander variiren, und sich stetig weiter entwickeln.

Nachzulesen und zu überprüfen ist diese These jetzt in NEUROBIEST, Miras im Herbst 2023 erschienenen Science-Fiction-Roman. Von Aiki Mira selbst als „Biopunk“ bezeichnet, nimmt die Geschichte Fäden und Anspielungen, Begriffe und Stimmungen aus dem schon sehr überzeugend geschriebenen Vorläuferbuch NEONGRAU auf und springt vom halb versunkenen, verdüsterten Hamburg in ein wild wucherndes und strahlendes Berlin.

Dieses zukünftige Aiki-Mira-Berlin hat sich offenbar zu einer Hauptstadt der Biologieforschung und der Erzeugung biosynthetischen Lebens entwickelt – und das nicht nur auf rechtlich unangreifbare Weise, sondern offensichtlich auch mittels mehr oder weniger illegaler Menschenversuche. Einmal in der Welt, sucht und findet auch dieses Leben seinen Weg.

Die in zwei Erzählstränge aufgeteilte Geschichte von Aruke und Riva, von Prima und Tanun, von Crispin, Kenoah, Olivia, Cem und einem halben Dutzend weiterer bemerkenswert liebenswürdiger und lebendiger Protagonisten spielt abwechselnd im Berlin des Jahres 2100 und in einem Biolabor im Amazonasgebiet zehn Jahre früher. Die Geschehnisse und ihre Folgen beschreibt Mira in einer Stil-Mischung aus absolut gegenwärtiger Sprache und einem tiefen Verständnis für klassische Science-Fiction-Elemente. Denn auch wenn in NEUROBIEST alles topaktuell auf dem Stand derzeitiger Spitzenforschung ist, so klingen als Hintergrundmelodien immer wieder Variationen an, die auf A. E. van Vogts Mutanten-Epos SLAN aus dem Jahr 1940 hinweisen oder an Theodore Sturgeons Gestalt-Zyklus MORE THAN HUMAN von 1953 erinnern (und natürlich wurden auch Michael Crichtons Werke KONGO und JURRASIC PARK nicht vergessen).

Wenn wir dann aber Sätze lesen dürfen wie diese,

Als sie auf dem Dach ankommen, werden sie bereits erwartet. Mehrere Personen stehen vor dem HQ. Crispin lässt einen Schrei los. „Ich wusste es! Da sind sie! Mein Leben ist vorbei! Kill! Over!“
Alle mustern die Fremden. Drei weiblich gelesene Personen im mittleren Alter.
„Wer ist das?“, will Aruke wissen, „Crispin hast du die Stromrechnung nicht bezahlt?“
Crispins Kinn zittert. „Das sind meine Mütter.“
Was they nicht sagt: Sie haben mich gefunden, weil ich vom Familienvermögen deine neue ID gekauft habe.
„Schön sie mal kennenzulernen“, erwidert Aruke und lächelt.
Crispin seufzt. Arukes Lächeln macht alles immer gleich irgendwie besser.
(S. 323)

dann wissen wir, dass so in Deutschland derzeit nur Aiki Mira schreiben kann! Die Wärme und Zuneigung, die hier sichtbar wird, berührt unser aller Herzen.

Es war kein Zufall, dass Aiki Miras Werke in den vergangenen zwei Jahren praktisch alle nur möglichen Genre-Preise abräumten, egal ob für Kurzgeschichten oder Romane, und es ist nach der Lektüre von NEUROBIEST auch klar, dass dies der heißeste Anwärter für die nächste Preis-Saison ist.

Horst Illmer

Wie schon den gestrigen Beitrag möchte ich euch auch diesen nicht nicht vorenthalten. An dieser Stelle ziehe ich auch gleich vorauseilend meinen Hut vor Horst. Die heutige Doppelung meines Beitrags vom 18. Oktober ist wieder einmal sensationell. Als Titel sowieso, aber auch als Rezension.

Der Roman hat es mehr als verdient auch an dieser Stelle im Adventskalender erneut aufzutauchen. Dass Horsts Rezi dabei eine ganz eigene Qualität in sich birgt, erhöht den Wert noch zusätzlich.

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Adventskalender 2023 T-24: Immer nach Hause

von am 30. November 2023 1 Kommentar

GerdHeute beginnt unser alljährlicher Adventskalender. Zusätzlich zu unseren "normalen" Rezensionen gibt es bis Heilig Abend täglich einen Tipp für eure Wunschzettel oder eine Idee zum verschenken. Ergänzt werden diese Beiträge durcch unsere Podcasts, die in der Adventszeit auch jeweils um diese Themen kreisen. Ideen und Tipps fürs Weihnachtsfest. Der erste Beitrag in diesem Jahr bildet gleichzeitig den Abschluss für Horsts Serie über die erste Welle von Veröffentlichungen aus einem neuen Verlag mit einem neuen Konzept. Horst hat bereits vor dem Adventskalender begonnen, euch die Werke des Carcosa Verlages vorzustellen. Mit dem heutigen Artikel schließt er diese Serie ab und bespricht gleichzeitig sein ganz persönliches Highlight aus diesem Programm. Ein würdiger Einstieg in unsere Adventstipps:

Ursula K. Le Guin
IMMER NACH HAUSE. Roman.
Deutsche Erstausgabe
Übersetzt von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch
Mit Illustrationen von Margaret Chodos-Irvine und Landkarten der Autorin
(ALWAYS COMING HOME / 1985/2019)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 859 S.
ISBN 978-3-910914-00-1
Hardcover / 48,00 Euro (Subskriptionspreis bis 1.5.2024, danach 58,00 Euro)

Vor mir liegt ein schon äußerlich gewichtiges Buch. Der freundlich hellbraune Einband trägt in sehr klarer Schrift den Namen der Autorin und den Titel IMMER NACH HAUSE. Dazwischen nimmt eine Illustration aus dem Hause benSwerk prominent ihren Platz ein.

Wer das Hardcover in die Hand nimmt und die 850 Seiten durch die Finger laufen lässt, erblickt ein- und mehrspaltig bedruckte Seiten, Bilder, Karten, Tabellen; wer Stichproben liest, findet Prosa, Gedichte, Stammbäume, sogar ein Wörterbuch.

Wer aber, wie das bei einem Roman ja üblich ist, von vorne beginnt, liest die Geschichte vom Volk der Kesh und wie diese Leute in der Zukunft versucht haben werden, mit der Welt zurecht zu kommen, die wir heute Lebenden ihnen hinterlassen. Die Kesh sind nicht isoliert, um ihr Siedlungsgebiet im Na-Tal (im dann ehemaligen Nordkalifornien gelegen) herum gibt es andere Stämme, Völker, Leute – und als gleichberechtigten Protagonisten die Natur.

Das Leben unserer Nachfahren wird uns hauptsächlich von Erzählstein näher gebracht, einer Kesh-Frau, die aus eigenem Entschluss fortgeht von ihren Leuten, die viel erlebt auf ihrer Reise – und am Ende dann doch für „immer nach Hause“ kommt.

Zusätzlich hat das Buch mit Pandora, der von Fernher gekommenen Sammlerin, eine allwissende Kommentatorin, deren Einlassungen wir das erzählerische Raum-Zeit-Koordinatennetz ebenso verdanken wie die übrigen Geschichten der Kesh, ihre Theaterstücke, ihre Kunstwerke, die Beschreibungen der Riten und Tänze, der Hütten und Plätze, der Tiere und Sträucher, der Jahreszeiten und Umweltgefahren, all der Dinge, die wir wissen wollen, um unser Bild dieser letztlich utopischen Gesellschaft zu vervollständigen.

(Wobei der Begriff »utopisch« im a-historischen Sinn gebraucht wird, da ja gerade die für eine Utopie typische Insel-Situation hier nicht gegeben ist. Es handelt sich vielmehr um Le Guins Vision einer möglichen Lebensweise für Leute, die im Einklang mit ihrer Welt sind.)

Aus all diesen Details ergibt sich ein überaus stimmiges, immer klarer und bunter werdendes Bild einer Gesellschaft, die sich von der unseren in vielen Punkten unterscheidet, von Le Guin aber mit so viel Mitgefühl und Empathie geschildert wird, dass wir diese Unterschiede ganz oft vergessen und hinein tauchen in ein überaus reiches und lebenswertes Dasein. Es gibt nur wenige Hinweise auf die weit zurückliegenden Ereignisse und was seither geschah oder welche „Vergangenheits-Technik“ noch in Gebrauch ist, es empfiehlt sich also ein langsames und aufmerksames Lesen.

Ja, man muss sein Gehirn schon einschalten bei der Lektüre dieses Buches, aber wer bereits andere Werke von Le Guin gelesen hat, weiß, dass das kein Problem darstellt, denn beim Lesen ihrer Texte aktiviert sich das Denken automatisch. Wer jemals in FREIE GEISTER oder DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT versunken ist, weiß zudem, dass dieses „Selbstdenken“ kein Hindernis darstellt, für das herzerwärmende Gefühl, mit einer lieben Freundin im Gespräch zu sein. Am Ende schließen wir das Buch mit einem zufriedenen, dankbaren, vielleicht sogar glücklichen Lächeln im Gesicht.

Dass dies so ist, dass diese Ausgabe von IMMER NACH HAUSE in der vorliegenden Form tatsächlich so gelungen ist, verdankt sich gleich mehreren glücklichen Zufällen. Zum einen konnte Le Guin vor einigen Jahren ihr Opus Magnum nochmals durchsehen und deutlich erweitern. Zum anderen gelang es, mit Karen Nölle als literarische Übersetzerin, Helmut W. Pesch als Linguist und Matthias Fersterer als an Umweltthemen und Mythologie interessierter Verleger und Übersetzer ein Team zusammenzustellen, wie es für dieses Buch nicht optimaler hätte sein können. Mit welchen Herausforderungen die Übersetzerriege konfrontiert war und auf welch stimmig-kreative Lösungen sie dafür kamen, zeigt beispielhaft bereits der erste Satz:

  • »Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.« (S. 13)

Hier zeigt die Autorin auf, was sie mit „Zukunftsarchäologie“ meint: eine in die Zukunft verlegte Betrachtung bereits Geschichte gewordener Ereignisse; echte, literarisch ausgefeilte Science Fiction. Auch für die Übersetzung des Roman-Titels ALWAYS COMING HOME gab Le Guin den entscheidenden Hinweis, handelt es sich doch um ein englischsprachiges Zitat aus dem Romanfragment HEINRICH VON OFTERDINGEN von Novalis, das im deutschen Originaltext „immer nach Hause“ lautet. Gemeinsam konnten die Übersetzer*innen alle durch das Original aufgeworfenen Fragen klären und so diese nicht genug zu lobende deutsche Fassung erstellen.

Dass wir diese herrlich fließende und dabei gleichzeitig wohldurchdachte und intelligent konstruierte Prosa nun endlich auch in unserer Muttersprache lesen dürfen, macht IMMER NACH HAUSE nicht zum Buch des Jahres, sondern zum Buch des Jahrzehnts!

Horst Illmer

GerdUnd noch eine interessante Ergänzung zu diesem Artikel. Ich habe diesen Artikel von Horst zusammen mit einer weitergeleiteten e-mail bekommen. Aus dem Hause "Memoranda Verlag" (welcher das Imprint Carcosa Verlag mit betreut) von Hardy Kettlitz persönlich (am Vorabend des Sendetermins). Aktuell ist die Sendung in der Mediathek zu finden. Den Inhalt dieser e-mail wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten:

"Hallo ihr Lieben,

nur zur Info, falls ihr am Sonntag gegen 23:35 Uhr noch nichts vorhabt:
Denis Scheck stellt in DRUCKFRISCH (ARD) unser Buch „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin vor.
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/sendung-vom-19-11-2023-104.html
Unser Lieblingssatz:
»›Immer nach Hause‹ hat das Potenzial, zu einem ›Herrn der Ringe‹ einer ökologisch alarmierten Generation zu werden.«

Herzliche Grüße
Hardy."

 

Heute beginnt unser alljährlicher Adventskalender. Zusätzlich zu unseren "normalen" Rezensionen gibt es bis Heilig Abend täglich einen Tipp für eure Wunschzettel oder eine Idee zum verschenken. Ergänzt werden diese Beiträge durcch unsere Podcasts, die in der Adventszeit auch jeweils um diese Themen kreisen. Ideen und Tipps fürs Weihnachtsfest. Der erste Beitrag in diesem Jahr bildet gleichzeitig den Abschluss für Horsts Serie über die erste Welle von Veröffentlichungen aus einem neuen Verlag mit einem neuen Konzept. Horst hat bereits vor dem Adventskalender begonnen,

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Das lange Morgen

von am 29. November 2023 Kommentare deaktiviert für Das lange Morgen

Leigh Brackett
DAS LANGE MORGEN. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Hannes Riffel
(THE LONG TOMORROW / 1955)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 284 S.
ISBN 978-3-910914-04-9
Klappenbroschur / 22,00 Euro

Die 1915 geborene Leigh Brackett war eine der ersten Frauen, die erfolgreich Science-Fiction-Geschichten schrieben, und sie blieb dem Genre ein Leben lang treu. Allerdings verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt zusätzlich in Hollywood mit dem Schreiben von Drehbüchern, darunter solche Klassiker wie RIO BRAVO und THE EMPIRE STRIKES BACK.

Wie damals üblich begann sie Anfang der 1940er Jahre mit Kurzgeschichten die später zu Romanen zusammengefasst und als Taschenbücher veröffentlicht wurden. 1955 allerdings gelang ihr mit THE LONG TOMORROW ein Meisterwerk, das bei Doubleday sofort als Hardcover veröffentlicht wurde.

Der Roman spielt in einer postapokalyptischen Zukunft, in denen die USA sich nach einem Atomkrieg in einer Phase des Neubeginns befinden, die vor allem von Landwirtschaft und Religion geprägt wird. Großstädte, Technik und Erfindungsgeist sind verpönt und werden unterdrückt. In dieser restriktiven Gesellschaft regen sich bei dem jungen Len Colter, angestachelt von seinem Vetter Esau, Widerspruchsgeist und Abenteuerlust. Gemeinsam verlassen sie ihr Heimatdorf und ziehen los, um die sagenumwobene Technikmetropole Bartorstown zu suchen …

Brackett gelingt es in ihrem Entwicklungsroman die Balance zu halten zwischen spannendem Abenteuer, psychologisch fundierten Einblicken in die Vorstellungswelten ihrer Protagonisten und den Argumenten für und gegen einen neuen technischen Fortschritt. Als Anregung für ihre ländliche Agrargesellschaft dienten ihr eine Gemeinde der Amish, die sie kennen lernte als sie mit ihrem Mann Edmond Hamilton nach Ohio gezogen war.

Auf Deutsch erschien das Werk erstmals 1959 unter dem Titel AM MORGEN EINER ANDEREN ZEIT in der Heftromanreihe UTOPIA-Großband. Sowohl diese Ausgabe als auch die 1983 erschienene Neuausgabe als UTOPIA-Taschenbuch sind stark gekürzt und fürchterlich bearbeitet.

Umso verdienstvoller ist deshalb die Veröffentlichung bei Carcosa, die von Hannes Riffel neu übersetzt wurde und den Titel DAS LANGE MORGEN trägt. Erstmals ungekürzt und mit dem nötigen Respekt übertragen, kann sich hier Bracketts Erzählkunst voll entfalten. Wenn Len am Ende des Buches gemeinsam mit seiner Frau um die Erkenntnis ringt, welchen Weg sie gemeinsam gehen sollen, wo die Zukunft ihrer Kinder liegen soll, dann ist diese Szene so intensiv nachfühlbar wie dies nur bei wirklich guter Literatur möglich ist. Mit DAS LANGE MORGEN findet ein großes Werk der US-amerikanischen Science Fiction endlich seinen Weg zu uns.

Horst Illmer

Leigh Brackett
DAS LANGE MORGEN. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Hannes Riffel
(THE LONG TOMORROW / 1955)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 284 S.
ISBN 978-3-910914-04-9
Klappenbroschur / 22,00 Euro

Die 1915 geborene Leigh Brackett war eine der ersten Frauen, die erfolgreich Science-Fiction-Geschichten schrieben, und sie blieb dem Genre ein Leben lang treu. Allerdings verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt zusätzlich in Hollywood mit dem Schreiben von Drehbüchern, darunter solche Klassiker wie RIO BRAVO und THE EMPIRE STRIKES BACK.

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Babel-17

von am 27. November 2023 Kommentare deaktiviert für Babel-17

Samuel R. Delany
BABEL-17. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Jakob Schmidt
(BABEL-17 / 1966/2001)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 250 S.
ISBN 978-3-910914-02-5
Klappenbroschur / 20,00 Euro

Samuel R. Delany, Jahrgang 1942 und damit dreizehn Jahre jünger als Ursula K. Le Guin, kann mit einigem Recht in Anspruch nehmen, sowohl in seinen literarischen wie in seinen theoretischen Werken der US-amerikanische Autor zu sein, der Le Guin in jeder Weise am nächsten kommt. Aufgrund persönlicher Umstände begannen beide fast gleichzeitig mit dem veröffentlichen von Science Fiction, beide schrieben gleichermaßen Kurzgeschichten, Romane, Essays, Buchbesprechungen und Sachbücher. Beide waren enorm politisch und lieferten Texte, auf die sich Aktivist*innen aus den Bereichen Feminismus, Gender und Umweltschutz auch heute noch berufen – aber auch ebenso kluge Beiträge zur Linguistik und Philologie.

Als gelungenster Beitrag Delanys zur Sprachtheorie gilt sein überaus lesenswerter und spannender Science-Fiction-Roman BABEL-17 aus dem Jahr 1966, für den er mit dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Für die Aufnahme von BABEL-17 in das erste Programm von Carcosas „phantastischer Weltliteratur“ spricht also einiges: obwohl es bereits drei Taschenbuchausgaben des Textes gibt, ist das Buch seit über 25 Jahren vergriffen; zudem gelten die frühen amerikanischen Ausgaben als „korrupt“, da Delanys Manuskript sowohl Verlag wie Setzer überforderten, was der Autor erst bei späteren Ausgaben berichtigen konnte, sodass Jakob Schmidt bei seiner Neuübersetzung auf eine überarbeitete Fassung aus dem Jahr 2001 zugreifen konnte.

Die Heldin dieser als Space Opera getarnten Übung in linguistisch-semiotischer Fantasie ist Rydra Wong, eine Verbeugung Delanys vor seiner damaligen Ehefrau, der Dichterin Marilyn Hacker, deren Gedichte im Buch auch immer wieder zitiert werden. In einer weit entfernten Zukunft wird Wong vom Generalstab der Vereinigten Menschheit rekrutiert, da die galaxisweit verehrte Linguistin und Dichterin als letzte Hoffnung im intergalaktischen Krieg mit einer fast allmächtig scheinenden feindlichen Macht gilt. Tatsächlich gelingt es ihr, einen Teil der „Feindsprache Babel-17“ zu entschlüsseln und so macht sie sich auf, um im Hauptkampfgebiet ihre Theorien zu überprüfen …

Dann stellt sich jedoch heraus, dass „Babel-17“ die eigentliche Waffe ist: die Verwendung dieser Sprache ist wirklichkeitskonstituierend, d.h. was in ihr mitgeteilt wird, geschieht. Nur Wongs zusätzliche Fähigkeit der Telepathie rettet sie vor der Vernichtung und ermöglicht es ihr letztlich eine Chance für ein Ende des Krieges zu finden. Dann schreibt sie „das beste Stück Prosa“ ihrer Karriere.

Damit werden die weiteren Gründe für die Veröffentlichung von BABEL-17 ersichtlich: dass wir dieses tolle Buch endlich einmal (wieder) lesen können – und um es allen in die Hand zu drücken, die uns fragen, ob wir ihnen ein Science-Fiction-Werk zeigen können, dass es mit der besten zeitgenössischen Hochliteratur aufnehmen kann. Yes We Can!

Horst Illmer

Samuel R. Delany
BABEL-17. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Jakob Schmidt
(BABEL-17 / 1966/2001)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 250 S.
ISBN 978-3-910914-02-5
Klappenbroschur / 20,00 Euro

Samuel R. Delany, Jahrgang 1942 und damit dreizehn Jahre jünger als Ursula K. Le Guin, kann mit einigem Recht in Anspruch nehmen, sowohl in seinen literarischen wie in seinen theoretischen Werken der US-amerikanische Autor zu sein, der Le Guin in jeder Weise am nächsten kommt.

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Vor der Revolution

von am 22. November 2023 2 Kommentare

Hannes Riffel (Hrsg.)
VOR DER REVOLUTION.
Ein phantastischer Almanach – Erste Folge.
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 278 S.
ISBN 978-3-910914-08-7
Klappenbroschur / 18,00 Euro

So etwas hat es schon lange nicht mehr gegeben. Ein neuer Verlag, spezialisiert auf herausragende Science Fiction, die mehr als bloße Unterhaltung bietet, auf Bücher, die zu Freunden fürs Leben werden, auf Lektüren, die die eigene Weltbetrachtung verändern, auf Geschichten, die Herz und Verstand gleichermaßen er­greifen und nicht mehr loslassen. Ein solcher Verlag ist Carcosa, der im Oktober 2023 sein erstes Programm herausbrachte, das aus vier absolut lesenswerten Romanen von Ursula K. Le Guin, Samuel R. Delany, Leigh Brackett und Gene Wolfe besteht.

Zur Abrundung eines solchen Programms bedarf es dann natürlich auch eines Mediums für kürzere Sachtexte (Interviews, Artikel, Essays usw.) und für Kurzgeschichten. Die literarische Form, die dafür am besten geeignet scheint, ist seit Jahrhunderten der Almanach – und damit hat Hannes Riffel früher schon gute Erfahrungen gemacht, erschienen unter seiner Ägide doch zwei Bände DAS SCIENCE FICTION JAHR und fünf Ausgaben von Pandora.

Bei Carcosa trägt die erste, von Riffel zusammengestellte, Almanach-Folge den Titel VOR DER REVOLUTION und zeugt von der riesigen Erfahrung dieses Herausgebers. Wie eine „Klammer“ umschließen die dreizehn Beiträge dieses erste Verlagsprogramm und bieten dabei zugleich auch schon qualifizierte Ausblicke auf das kommende.

Natürlich erklärt Riffel in seiner „Vorrede“ erst einmal das Wie? Wo? Was? und Warum? von Verlag und Programm und leitet dann über zur ersten Story, „Ein Einwohner von Carcosa“ von Ambrose Bierce, wobei sich auch der Verlagsname erklärt.

Es folgen nun eine Reihe von Texten, die in den meisten anderen Verlagen als Vor- bzw. Nachworte in den jeweiligen Romanen erschienen – und dort untergegangen – wären: So schreibt Julie Phillips über ihre Begegnung mit Ursula K. Le Guin (von der sich dann, ganz zwanglos, drei Stories anschließen), Helmut W. Pesch stellt Leigh Brackett als „Königin der Space Opera“ vor, Christopher Ecker beschäftigt sich mit den Rätseln, die Gene Wolfe in DER FÜNFTE KOPF DES ZERBERUS aufwirft und Clemens J. Setz macht „Bemerkungen über Samuel R. Delany“. Von Delany stammt dann auch die Novelle IMPERIUMSSTERN, die für die Neuveröffentlichung noch einmal von Autor und Herausgeber durchgesehen wurde.

Die noch verbleibenden Beiträge von Alec Pollak (über Joanna Russ), Karlheinz Steinmüller (über Erik Simon) und Dietmar Dath (über Alan Moore) weisen auf Geplantes hin, darunter eine Werkausgabe der Prosatexte von Joanna Russ und der Mega-Monumental-Riesen-Roman JERUSALEM, mit dem sich Alan Moore von seinen Wurzeln als Comic-Texter freischwimmen wollte.

Als Anthologie besteht VOR DER REVOLUTION durchaus alleine, so viele lesenswerte Texte sind in jedem Fall vorhanden, aber als Verlags-Almanach ist er zugleich die perfekte Ergänzung zu jedem der vier Romane – und außerdem noch Appetitanreger für die nächsten Bücher mit „phantastischer Weltliteratur“ (so der bescheidene Verlags-Slogan).

Horst Illmer

Hannes Riffel (Hrsg.)
VOR DER REVOLUTION.
Ein phantastischer Almanach – Erste Folge.
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 278 S.
ISBN 978-3-910914-08-7
Klappenbroschur / 18,00 Euro

So etwas hat es schon lange nicht mehr gegeben. Ein neuer Verlag, spezialisiert auf herausragende Science Fiction, die mehr als bloße Unterhaltung bietet, auf Bücher, die zu Freunden fürs Leben werden, auf Lektüren, die die eigene Weltbetrachtung verändern, auf Geschichten, die Herz und Verstand gleichermaßen er­greifen und nicht mehr loslassen.

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Julia

von am 20. November 2023 Kommentare deaktiviert für Julia

Sandra Newman
JULIA. Roman.
Ü: Karoline Hippe
(JULIA / 2023)
Köln, Eichborn, 2023, 445 S.
ISBN 978-3-8479-0156-3 / 24,00 Euro
Hardcover

Über das Leben von Winston Smith, dem tragischen „Helden“ in George Orwells Jahrhundertbuch 1984, wissen wir so gut wie alles – schließlich konnten wir nicht nur sein Tagebuch lesen, sondern waren auch Zeugen seiner Vernehmung durch die Gedankenpolizei und der Gespräche mit seiner Geliebten Julia.

Aber wie sieht es denn mit Julia selbst aus? Woher kommt sie? Welche Geschichte steckt hinter der selbstbewussten Fassade der Systemverächterin und Sex liebenden Semi-Revolutionärin, die ihr Schicksal so selbstverständlich mit dem von Smith verkettet?

Diese Fragen beantwortet ausführlich der soeben erschienene Roman JULIA der amerikanischen Autorin Sandra Newman. Denn in Julias Leben, das hier konsequent aus ihrer Sicht erzählt wird, ist die gemeinsam mit Smith verbrachte Zeit nur eine (wenngleich eine wichtige) Episode. Newman gibt auch Julias früheren Entwicklung und der Zeit nach dem Folterkeller genügend Raum, in dem sich eine verblüffend andere Person zeigt, als der orwellsche Text impliziert.

Und so ist der Roman JULIA, in dem eine der bekanntesten Geschichten des 20. Jahrhunderts eine neue, andere, weibliche Deutung erfährt, eines der überraschendsten Bücher des Jahres 2023 geworden!

Horst Illmer

Sandra Newman
JULIA. Roman.
Ü: Karoline Hippe
(JULIA / 2023)
Köln, Eichborn, 2023, 445 S.
ISBN 978-3-8479-0156-3 / 24,00 Euro
Hardcover

Über das Leben von Winston Smith, dem tragischen „Helden“ in George Orwells Jahrhundertbuch 1984, wissen wir so gut wie alles – schließlich konnten wir nicht nur sein Tagebuch lesen, sondern waren auch Zeugen seiner Vernehmung durch die Gedankenpolizei und der Gespräche mit seiner Geliebten Julia.

Aber wie sieht es denn mit Julia selbst aus?

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Der fünfte Kopf des Zerberus

von am 13. November 2023 Kommentare deaktiviert für Der fünfte Kopf des Zerberus

Gene Wolfe
DER FÜNFTE KOPF DES ZERBERUS. Novellen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Riffel
(THE FIFTH HEAD OF CERBERUS / 1972)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 296 S.
ISBN 9783910914063
Klappenbroschur / 22,00 Euro

Gene Wolfe hat ein Roman-Puzzle geschrieben (man könnte auch „Novellen-Zyklus“ oder „Mosaikroman“ dazu sagen), welches jeder Leser in seinem Kopf selbst zusammenfügen muss. Da Wolfe dafür keine Vorlage liefert, und die Einzelteile manchmal gar nicht, manchmal aber auch an vielen Stellen zusammenpassen, könnte es sein, dass am Ende genau so viele Romane existieren wie das Buch Leser hat. Allerdings besteht Wolfes Genie darin, dass alle Leser mit ihrer Version dieses Puzzles zufrieden sein können.

Der Bezugspunkt aller drei Geschichten ist die Verortung in einem Doppel-Planeten-System (Sainte Anne & Sainte Croix), das vor etwas mehr als zweihundert Jahren von Menschen besiedelt wurde. Es gab wohl Ureinwohner, allerdings scheinen sie ausgestorben zu sein. Dr. John V. Marsch, ein Forscher von der Erde, der nach eventuell noch lebenden „Abos“ oder den Spuren ihrer untergegangenen Zivilisation suchen will, reist nach einem längeren Aufenthalt auf Sainte Anne weiter nach Sainte Croix.

In der ersten Novelle („Der fünfte Kopf der Zerberus“) erzählt ein junger Mann in Ich-Form von seiner Kindheit und Jugend im Haus seines Vaters, das sowohl ein Bordell wie ein Gen-Labor enthält und in dessen weitläufigen Korridoren nicht nur der Junge (den sein Vater nur „Nummer Fünf“ nennt) und sein Bruder leben, sondern auch ein Roboter, der die Kinder unterrichtet, sowie deren behinderte Tante, die eine anerkannte Anthropologien ist. Im Verlauf der Handlung entwickelt Nummer Fünf die Überzeugung, dass er seinen Vater töten müsse, bevor dieser ihn intellektuell zerstört, und führt dieses Vorhaben dann auch aus. Kurz vorher kommt ein Anthropologe namens Dr. Marsch zu Besuch, der sich bei Tante und Vater nach den Ureinwohnern des Planeten erkundigt.

Der zweite Teil („»Eine Geschichte« von John V. Marsch“) erzählt in Form einer Sage vom Leben der Ureinwohner. Diese waren wohl Gestaltwandler und zugleich unfähig Werkzeuge zu benutzen. Trotzdem besaßen sie eine reiche Kultur, in der Träume und Naturverbundenheit sehr wichtig waren. Diese Erzählung endet mit der Landung des ersten Raumschiffs von der Erde.

Die dritte und umfangreichste Novelle („V.R.T.“) besitzt die komplexeste Form: In eine Rahmenhandlung (ein Offizier soll Prozessunterlagen prüfen) eingefügt lesen wir verschiedene, zeitlich und formal ungeordnete und vermengte, Texte, die Aufschluss geben sollen über das Schicksal von Dr. Marsch. Dieser hat vor seinem Eintreffen auf Sainte Croix auf dem Schwesterplaneten Sainte Anne eine Expedition unternommen, dafür einen Führer engagiert, und ist für drei Jahre im unbesiedelten Hinterland verschwunden, um die Spuren der Ureinwohner (oder diese selbst) zu suchen. Bei seiner Rückkehr erklärt er, sein Führer sei tot, nimmt ein Raumschiff nach Sainte Croix und will an der dortigen Universität seine Forschungsergebnisse vorstellen. Allerdings wird er von der Geheimpolizei verhaftet und monatelang verhört. Alle persönlichen Aufzeichnung von Dr. Marsch sowie die Verhörprotokolle erhält nun besagter Offizier zur Kenntnis und Stellungnahme. Allerdings beschäftigt er sich nur sehr oberflächlich mit dem Material, sodass sich am Ende ein recht löchriges Gesamtbild ergibt, dessen Lücken Raum für eine Vielzahl von Interpretationen lassen.

Obwohl ich das Buch vor vielen Jahrzehnten bereits ein erstes Mal gelesen hatte, besaß ich keinerlei Erinnerungen mehr an Details, sondern nur ein Gefühl von positiver Erwartung. Bereits nach wenigen Seiten war ich erneut im Buch gefangen und mir sicher, dass es sich hierbei um ein absolutes Meisterwerk handelt. Diesmal ist mir so richtig klar geworden, wie viele Ebenen diese komplexe Konstruktion beinhaltet. Es ist am Ende nicht einmal klar, wann die ersten Raumschiffe auf einem der Planeten gelandet sind, auf welcher Welt einige der Szenen angesiedelt sind, ob die Abos auf beiden Planeten lebten (oder noch leben), welche politischen Machtverhältnisse es zum Erzählzeitpunkt gibt usw.
Dieses faszinierende Werk verlangt geradezu nach weiterer „Durchdringung“.

Horst Illmer

Gene Wolfe
DER FÜNFTE KOPF DES ZERBERUS. Novellen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Riffel
(THE FIFTH HEAD OF CERBERUS / 1972)
Wittenberge, Carcosa Verlag, 2023, 296 S.
ISBN 9783910914063
Klappenbroschur / 22,00 Euro

Gene Wolfe hat ein Roman-Puzzle geschrieben (man könnte auch „Novellen-Zyklus“ oder „Mosaikroman“ dazu sagen), welches jeder Leser in seinem Kopf selbst zusammenfügen muss. Da Wolfe dafür keine Vorlage liefert, und die Einzelteile manchmal gar nicht, manchmal aber auch an vielen Stellen zusammenpassen,

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Science Fiction Art & Kalendergeschichten 2024

von am 8. November 2023 Kommentare deaktiviert für Science Fiction Art & Kalendergeschichten 2024

Marianne Labisch, Mario Franke & Uli Bendick (Hrsg.)
SCIENCE FICTION ART & KALENDERGESCHICHTEN 2024.
Illustrationen: Mario Franke & Uli Bendick
Verlag Torsten Low, 2023, 14 Blätter
Querformat 42 x 30 cm, Spiralbindung mit Aufhänger / 19,90 Euro

Es mag auf den ersten Blick eine merkwürdige Zusammenstellung sein: die auf ihren Ewigkeitswert setzende Literatur und der auf Tagesaktualität und Vergänglichkeit hin ausgerichtete Kalender – wenn die Verbindung von Beidem dann allerdings so aussieht wie der von der Schriftstellerin Marianne Labisch und den Künstlern Mario Franke und Uli Bendick zusammengestellte Wandkalender SCIENCE FICTION ART & KALENDERGESCHICHTEN 2024 dann wird daraus mit einem Mal eine unauflösliche und harmonische Symbiose.

Die Frontseiten des Kalendariums schmücken abwechselnd je sechs farbige Bilder von Bendick und Franke. Auf den Rückseiten derselben (inklusive des Deckblattes) finden sich dann 13 Science-Fiction-Geschichten von den derzeit wohl besten deutschsprachigen Autor*innen; nämlich, in alphabetischer Reihenfolge, Corinna Griesbach, Isabell Hemmrich, Anke Höhl-Kayser, Heidrun Jänchen, Marianne Labisch, Karin Leroch, Monika Loerchner, Tessa Maelle, Aiki Mira, Monika Niehaus, Ellen Norten, Janika Rehak und Yvonne Tunnat. Alle Stories haben zudem noch jeweils eine Schwarzweiß-Illustration.

Der großformatige (DIN A3) Kalender erschien überraschender Weise im Verlag von Torsten Low, der ja nicht nur für seine „Bissiger Verleger“-T-Shirts, sondern auch für seine überaus kleinformatigen Bücher bekannt ist. Zur Ausstattung gehören noch ein fester Karton für die Stabilität, zwei durchsichtige Schutzfolien vorne und hinten sowie ein Blatt mit biografischen Kurzporträts der Beteiligten.

Wer noch keinen Wandkalender für das nächste Jahr hat oder noch irgendwo einen unterbringen kann, wer nach einem ausgefallenen Geschenk sucht oder einfach auch nur gerne gute Kurzgeschichten liest (das Projekt könnte auch als illustrierte Anthologie durchgehen), wer die Science Fiction sowohl als Literatur wie als Kunst liebt, kann an SCIENCE FICTION ART & KALENDERGESCHICHTEN 2024 einfach nicht vorbei.
Und für Sammler ist dieses Objekt sowieso unverzichtbar.

Horst Illmer

Marianne Labisch, Mario Franke & Uli Bendick (Hrsg.)
SCIENCE FICTION ART & KALENDERGESCHICHTEN 2024.
Illustrationen: Mario Franke & Uli Bendick
Verlag Torsten Low, 2023, 14 Blätter
Querformat 42 x 30 cm, Spiralbindung mit Aufhänger / 19,90 Euro

Es mag auf den ersten Blick eine merkwürdige Zusammenstellung sein: die auf ihren Ewigkeitswert setzende Literatur und der auf Tagesaktualität und Vergänglichkeit hin ausgerichtete Kalender – wenn die Verbindung von Beidem dann allerdings so aussieht wie der von der Schriftstellerin Marianne Labisch und den Künstlern Mario Franke und Uli Bendick zusammengestellte Wandkalender SCIENCE FICTION ART &

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Elric – Die illustrierte Gesamtausgabe

von am 1. November 2023 5 Kommentare

Michael Moorcock
ELRIC. Die illustrierte Gesamtausgabe.
Aus dem Englischen von Hannes Riffel
Illustriert von John Picacio, Brom, Piotr Jablonski & Lecouffe Deharme
Mit Vorworten von Alan Moore, Neil Gaiman, Holly Black, Michael Chabon, Kai Meyer, Markus Heitz, Tad Williams & Walter Mosley
Originalausgabe
Frankfurt, S.Fischer/TOR, 2023, 1167 S.
ISBN 978-3-596-70768-3 / 68,00 Euro
Großformatiges Hardcover

Mein Gott, was haben wir die Elric-Bücher von Michael Moorcock geliebt, damals in den 1980er Jahren: Die Swinging Sixties hatten wir verpasst, die Beatles hatten sich aufgelöst, die Welt war frisch und neu und verlangte entdeckt zu werden. Und dabei half uns ein bleicher Fantasyheld, der mit seinem blutdurstigen Schwert Sturmbringer gegen Alles und Jeden in den Kampf zog.

Michael Moorcock gehört zu den Gründervätern der „New Wave“, er selbst hat einen „Ewigen Helden“ erschaffen, der in vielerlei Ausprägungen durch seine mehr als hundert Romane geistert, daneben gilt seine Leidenschaft dem vom Synthesizer geprägten „Space-Rock“. Was ihn (und seine Romanhelden) für uns, gleich neben David Bowie, zu einer idealen ersten Identifikationsfigur machte.

Und jetzt also, gefühlte Ewigkeiten später, dieser Türstopper: ELRIC. Die illustrierte Gesamtausgabe! Soweit ich erkennen kann, gibt es weltweit keine solche Monumentalausgabe, die in acht Bücher unterteilt, den größten Teil aller Geschichten um Elric von Melniboné zusammenfasst, die Moorcock seit 1961 geschrieben hat. Es handelt sich um Romane, Kurzgeschichten und aus Novellen zusammengefügte Episodenromane, die in chronologischer Reihenfolge die Geschichte des schwächlichen Albino-Fürsten erzählen, der gleichsam gegen seinen Willen zum (Anti-)Helden einer durch das Schwert regierten Fantasywelt wird.

Die eingestreuten „Vorworte“ von so illustren Autor*innen wie Alan Moore, Neil Gaiman, Holly Black, Kai Meyer, Markus Heitz oder Tad Williams zeigen, dass wir mit unserer Faszination nicht alleine sind. Der Großteil der schwarz-weißen Illustrationen stammt von John Picacio, die eingestreuten vier Farbtafeln (u. a. von Brom) wirken in dieser Textmasse etwas sparsam, sehr schön ist dafür die farbige Karte auf den Vorsatzpapieren und der Schutzumschlag von Altmeister Chris Achilleos überzeugt.

Wie bei solchen seitenstarken Riesenbüchern üblich, eignet es sich nicht zum im Bett lesen oder als Urlaubslektüre; dafür sind hier alle für die ELRIC-Saga relevanten (und größtenteils seit vielen Jahren nicht mehr erreichbaren) Texte zusammengefasst. So bleiben, auch durch die gelungene Übersetzung von Hannes Riffel vermittelt, keine Wünsche offen bezüglich des nostalgischen Wiedersehens mit einer der größten und widersprüchlichsten Figuren der modernen Fantasy.

Horst Illmer

Michael Moorcock
ELRIC. Die illustrierte Gesamtausgabe.
Aus dem Englischen von Hannes Riffel
Illustriert von John Picacio, Brom, Piotr Jablonski & Lecouffe Deharme
Mit Vorworten von Alan Moore, Neil Gaiman, Holly Black, Michael Chabon, Kai Meyer, Markus Heitz, Tad Williams & Walter Mosley
Originalausgabe
Frankfurt, S.Fischer/TOR, 2023, 1167 S.
ISBN 978-3-596-70768-3 / 68,00 Euro
Großformatiges Hardcover

Mein Gott, was haben wir die Elric-Bücher von Michael Moorcock geliebt, damals in den 1980er Jahren: Die Swinging Sixties hatten wir verpasst,

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Die Insel des Doktor Moreau

von am 25. Oktober 2023 2 Kommentare

H. G. Wells
DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU. Roman.
Ü: Felix Paul Greve & Marion Hertle
Ill. & Anmerkungen: Bill Sienkiewicz, Vorwort: Guillermo del Toro
o. O. (München), Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 2023, 176 S. 24,5 x 17,5 Hardcover
ISBN 978-3-95438-167-8
32,00 Euro

Wow! Und ich dachte schon, die Reihe mit den „illuminierten“ Luxuseditionen des amerikani­schen Verlags Beehive Books bleibt der deutschsprachigen Leserschaft auf alle Zeiten verborgen.

Jetzt wagt sich ausgerechnet die Münchener Verlagsbuchhandlung Liebeskind an eine Deutsche Ausgabe – und startet diese, wie der Originalverlag, mit dem 1896 erstmals erschienenen Roman DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU von H. G. Wells.

Das Buch gehört zu den umstrittensten Werken des englischen Großmeisters, vor allem wegen der ausführlich geschilderten Grausamkeiten, die der auf der Insel gestrandete Schiffbrüchige Edward Prendick mit ansehen muss, während er bei Dr. Moreau und dessen Helfer Montgomery „zu Gast“ ist. Da Wells selbst Lehramt mit dem Hauptfach Biologie studiert hat, gelingen ihm die Darstellung von Dr. Moreaus biologischen Experimenten mit Tier-Mensch-Hybriden so außerordentlich plastisch, dass es auch 125 Jahre später noch für Gänsehaut bei der Lektüre ausreicht.

Besonders an dieser Neuedition sind das Vorwort von Guillermo del Toro und – unübersehbar – die Buchgestaltung mit Farbbildern und einfarbigen Illustrationen von Bill Sienkiewicz. Anders als del Toro, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU für Wells’ „wichtigsten Roman“ hält, bekennt sich Sienkiewicz dazu, ein KRIEG DER WELTEN-Fan zu sein, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU vor allem ausgewählt hat, um mit seinen Bildern ein Gegengewicht zu den diversen (und schlecht gemachten) Verfilmungen zu setzen – und das gelingt ihm vorzüglich, um das mindeste zu sagen.

Nachdem der Verlag damit wirbt, dass Margaret Atwood das Werk für unvergesslich hält, Jorge Louis Borges den „frühen Wells“ bevorzugt und gerade DIE TOCHTER DES DOKTOR MOREAU der mexikanisch-kanadischen Autorin Silvia Moreno-Garcia im Limes Verlag veröffentlicht wurde, erscheint ein Blick ins Original durchaus (wieder einmal) empfehlenswert.

Horst Illmer

H. G. Wells
DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU. Roman.
Ü: Felix Paul Greve & Marion Hertle
Ill. & Anmerkungen: Bill Sienkiewicz, Vorwort: Guillermo del Toro
o. O. (München), Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 2023, 176 S. 24,5 x 17,5 Hardcover
ISBN 978-3-95438-167-8
32,00 Euro

Wow! Und ich dachte schon, die Reihe mit den „illuminierten“ Luxuseditionen des amerikani­schen Verlags Beehive Books bleibt der deutschsprachigen Leserschaft auf alle Zeiten verborgen.

Jetzt wagt sich ausgerechnet die Münchener Verlagsbuchhandlung Liebeskind an eine Deutsche Ausgabe – und startet diese,

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Der Werwolf von Tarker Mills

von am 11. Oktober 2023 Kommentare deaktiviert für Der Werwolf von Tarker Mills

Stephen King
DER WERWOLF VON TARKER MILLS.
Illustriert von Bernie Wrightson
Ü: Helmut W. Pesch
(CYCLE OF THE WEREWOLF / 1983)
Bielefeld, Splitter, 2023, 136 S.
ISBN 978-3-98721-184-3 / Hardcover / 25,00 Euro

Wenn im Splitter Verlag eine Zusammenarbeit von Stephen King und Bernie Wrightson erscheint, muss das nicht unbedingt ein Comic sein. DER WERWOLF VON TARKER MILLS ist ein Kurzroman von King in 12 Kapiteln, der ursprünglich 1983 erschien, mit über 30 einfarbigen und bunten Bildern von Wrightson.

Die Idee zu diesen „Kalendergeschichten“, so erzählt King in seinem Vorwort, stammt von einem amerikanischen Fan und Kleinverleger, der unbedingt ein Buch herausbringen wollte, das seine Lieblingskünstler Wrightson und King gemeinsam schufen. Daraus wurde dann nicht nur der vorliegende Kurzroman, sondern sogar noch ein Drehbuch und ein Realfilm. Während Film und Drehbuch längst vergessen sind, bilden der ursprüngliche Text und die dazugehörigen Illustrationen nach wie vor eine überzeugende, lesens- und ansehenswerte Einheit.

Die Geschichte eines Werwolfs, der jeden Monat einmal sein Unwesen treibt, und eines behinderten Jungen, der sich dem Monster in seinem Rollstuhl in den Weg stellt, besitzt eine fesselnde Kraft – und die abwechselnd doppelseitigen Schwarzweißzeichnungen, teils ganzseitigen Farbseiten von Wrightson, zeigen den erfahrenen Comic-Künstler auf der Höhe seiner Schaffenskraft.

Bisherige deutsche Ausgaben dieses Buches erschienen als Taschenbuch oder im Paperbackformat; dankenswerterweise bringt Splitter den WERWOLF VON TARKER MILLS jetzt im Comicalbum-Format heraus, wodurch sich die Qualität der Illustrationen in voller Pracht entfalten kann.

Horst Illmer

Stephen King
DER WERWOLF VON TARKER MILLS.
Illustriert von Bernie Wrightson
Ü: Helmut W. Pesch
(CYCLE OF THE WEREWOLF / 1983)
Bielefeld, Splitter, 2023, 136 S.
ISBN 978-3-98721-184-3 / Hardcover / 25,00 Euro

Wenn im Splitter Verlag eine Zusammenarbeit von Stephen King und Bernie Wrightson erscheint, muss das nicht unbedingt ein Comic sein. DER WERWOLF VON TARKER MILLS ist ein Kurzroman von King in 12 Kapiteln, der ursprünglich 1983 erschien, mit über 30 einfarbigen und bunten Bildern von Wrightson.

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Adam und Ada

von am 2. Oktober 2023 Kommentare deaktiviert für Adam und Ada

Christian Kellermann
ADAM UND ADA.
Berlin, Hirnkost, 2023, 405 S.
ISBN 978-3-98857-005-5 / 24,00 Euro
Hardcover

Als 1913 Bernhard Kellermanns Zukunftsroman DER TUNNEL veröffentlicht wurde, erreichte die Geschichte um den visionären Unternehmer MacAllan, der einen Eisenbahntunnel unter dem Atlantik bauen wollte, um Amerika und Europa zu verbinden, augenblicklich die Herzen der Leser*innen, was sich in Millionenauflage und stetigen Neuausgaben manifestierte. Aktuell schaffte es DER TUNNEL sogar als Auftaktband die Reihe der „wiederentdeckten Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ im Hirnkost Verlag zu starten.

Was uns ganz zwanglos zu ADAM UND ADA führt, dem ebenfalls bei Hirnkost veröffentlichten Debütroman von Christian Kellermann, seines Zeichens Erforscher der Künstlichen Intelligenz und Hochschullehrer in Berlin. Dessen Buch beginnt mit einem in blauen Lettern gesetzten Abschnitt über den MacAllanschen Tunnelbau, der vor mehr als einhundert Jahren in einer kritischen Phase steckte. Erst danach werden wir (jetzt in gewohntem Schwarz) mit Ada MacAllan bekannt gemacht, allein erziehende Mutter, geniale Programmiererin und Weltklasse-Biologin, die im Stockholm der Gegenwart kurz davor steht, mittels Künstlicher Intelligenz die letzten Rätsel der Mikrobiologie zu lösen. Wie sich im weiteren Verlauf zeigt, muss auch sie sich, wie bereits ihr Urgroßvater, auf Hilfe und Unterstützung von kapitalstarken Partnern einlassen – und wer zahlt, bestimmt, was mit den Ergebnissen passiert …

Während wir Ada in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts bei ihren privaten und geschäftlichen Problemen folgen, führt uns der Autor Christian Kellermann in (farblich) geschickt gesetzten Zwischenkapiteln immer wieder zurück in die 1920er Jahre, in denen Bernhard Kellermanns MacAllan seinen Tunnel, allen Widrigkeiten zu Trotz, fertigstellt. Und genau diesen Tunnel nutzt Ada hundert Jahre später für ihre Forschungsarbeit!

»ADAM UND ADA« wird so nicht nur zu einem spannenden Wissenschafts-Thriller, sondern erzählt auch eine sich über mehrere Ebenen erstreckende faszinierende Familiengeschichte.

Horst Illmer

Christian Kellermann
ADAM UND ADA.
Berlin, Hirnkost, 2023, 405 S.
ISBN 978-3-98857-005-5 / 24,00 Euro
Hardcover

Als 1913 Bernhard Kellermanns Zukunftsroman DER TUNNEL veröffentlicht wurde, erreichte die Geschichte um den visionären Unternehmer MacAllan, der einen Eisenbahntunnel unter dem Atlantik bauen wollte, um Amerika und Europa zu verbinden, augenblicklich die Herzen der Leser*innen, was sich in Millionenauflage und stetigen Neuausgaben manifestierte. Aktuell schaffte es DER TUNNEL sogar als Auftaktband die Reihe der „wiederentdeckten Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ im Hirnkost Verlag zu starten.

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Tausend Arten von Blau

von am 30. August 2023 Kommentare deaktiviert für Tausend Arten von Blau

Cheon Seon-Ran
TAUSEND ARTEN VON BLAU.
Ü: Jan Henrik Dirks
(A Thousand Blue / 2020)
München, Golkonda, 2023, 366 Seiten
ISBN 978-3-96509-051-4 / 22,00 Euro
Klappenbroschur

Echt jetzt? Ein Pferdebuch? Das ist das Ende!

Na, ganz so schlimm werden die Reaktionen der Leser*innen wohl hoffentlich nicht sein. Also: Vertrauen Sie mir, es hat schon seine Gründe, dass TAUSEND ARTEN VON BLAU hier gewürdigt wird.

Im Korea der 2050er Jahre hat die Entwicklung von neuen, menschenähnlichen Robotern, den sogenannten Humanoiden, zu den erwartbaren Problemen geführt: Reihenweise fallen Jobs im Niedriglohnsektor weg, die durch die angeblich billigeren Maschinen übernommen werden. Dies trifft auch die Schülerin Woo Yeonjae, die sich in einem Schnellimbiss etwas Taschengeld dazuverdient. Nachdem ihr gekündigt wird, erhält sie eine recht großzügige Abfindung, da ihr Chef ein ziemlich schlechtes Gewissen hat. Als sie kurz darauf zur Rennbahn geht, um ihre behinderte Schwester Eunhye zu besuchen, die dort viel Zeit in den Stallungen verbringt, da ihr die Pferde meist lieber sind als Menschen, stolpert Yeonjae im Wortsinn über einen (nach einem Sturz) schrottreifen Roboter-Jockey.

C-27 (oder Koli, wie er dann von Yeonjae genannt wird) gehört zu den speziell für Pferderennen gebauten, ultraleichten Humanoiden, die lediglich dazu da sind, die Rennpferde zu Höchstleistungen zu peitschen. Allerdings wurde Koli durch einen (glücklichen?) Zufall einen Emotions-Chip installiert, was letztlich auch zu seinem Sturz von Today, dem schnellsten Pferd Koreas, führte, da er, statt sich auf das Rennen zu konzentrieren, lieber den Himmel betrachtete und Überlegungen zu dessen Bläue anstellte. Yeonjae überrascht sich selbst und den Stallmeister Minju damit, dass sie ihre gesamte Abfindung in den Kauf des Roboters investiert, um ihn zuhause bei sich wieder instand zu setzen.

Doch Koli ist nicht das einzige »Geschöpf«, das Hilfe braucht: auch Today soll, nachdem sie inzwischen Verschleißerscheinungen zeigt und kaum mehr laufen kann, eingeschläfert werden. Trotz einiger Differenzen zwischen den Schwestern schmieden die beiden gemeinsam mit Koli und ein paar Freundinnen und Verwandten einen Plan zur Rettung von Today. Und der aus Ersatzteilen neu zusammengesetzte Koli entwickelt sich zum planerischen »Mastermind« im Hintergrund.

Einmal abgesehen von der spannend geschriebenen Rettungsgeschichte war es ein ganz spezieller Aspekt von »Tausend Arten von Blau«, der mich fasziniert hat und dazu führte, dass ich das Buch nach dem ersten Kapitel nicht mehr weglegen konnte: die Art und Weise wie Cheon Seon-Ran ihre Protagonistinnen miteinander interagieren lässt. Mit großer Zärtlichkeit und Rücksichtnahme schildert sie, selbst bei Nebenfiguren, deren Motivationen für ihre teilweise sehr ungewöhnlichen und verblüffenden Handlungen.

Ja, TAUSEND ARTEN VON BLAU ist tatsächlich ein Pferdebuch, in dem zwei Mädchen versuchen, das Schicksal eines von Menschen missbrauchten Vierbeiners zu ändern – aber es ist eben auch ein auf hohem literarischen Niveau erzählter Roman darüber, wie schwierig es manchmal ist, selbst mit seinen liebsten Mitmenschen klar zu kommen, sich ihnen zu öffnen und ihre Absichten zu erkennen. Letztlich geht es auch darum herauszufinden, was wir meinen, wenn wir von „Mitleid“ und „Menschlichkeit“ sprechen. Und das allein ist Grund genug, dieses Buch allen empfindsamen Leser*innen ans Herz zu legen.

Horst Illmer

Cheon Seon-Ran
TAUSEND ARTEN VON BLAU.
Ü: Jan Henrik Dirks
(A Thousand Blue / 2020)
München, Golkonda, 2023, 366 Seiten
ISBN 978-3-96509-051-4 / 22,00 Euro
Klappenbroschur

Echt jetzt? Ein Pferdebuch? Das ist das Ende!

Na, ganz so schlimm werden die Reaktionen der Leser*innen wohl hoffentlich nicht sein. Also: Vertrauen Sie mir, es hat schon seine Gründe, dass TAUSEND ARTEN VON BLAU hier gewürdigt wird.

Im Korea der 2050er Jahre hat die Entwicklung von neuen,

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Ferne Horizonte – Entfernte Verwandte

von am 23. August 2023 Kommentare deaktiviert für Ferne Horizonte – Entfernte Verwandte

Hans Jürgen Kugler & René Moreau (Hrsg.)
FERNE HORIZONTE – ENTFERNTE VERWANDTE.
Die Welt in Jahrmillionen.
Illustriert von Gerd Frey, Detlef Klewer, Jan Hoffmann, Uli Bendick, Mario Franke, Michael Böhme, Oliver Engelhard, David Staege und Thomas Thiemeyer
Berlin, Hirnkost, 2023, 370 S.
ISBN 978-3-98857-012-3 / 32,00 Euro
Hardcover

Dieser Science-Fiction-Anthologie, die den Titel FERNE HORIZONTE – ENTFERNTE VERWANDTE trägt und im Hirnkost Verlag erschienen ist, kann man auf ein paar wenigen Zeilen eigentlich gar nicht gerecht werden. Andererseits sollte allein die Aufzählung der beteiligten Künstler ausreichen, um zu zeigen, dass hier die wohl hochkarätigste Text- und Bild-Sammlung der letzten Jahre vorliegt.

Herausgegeben wurde das massive Hardcover von den EXODUS-Machern Hans Jürgen Kugler & René Moreau, weshalb es kaum überrascht, dass unter den 26 Autor*innen und neun Illustratoren der 27 Kurzgeschichten viele alte Bekannte auftauchen: Die Geschichtenerzähler Christian Endres, Aiki Mira, Nicole Rensmann, Angela und Karlheinz Steinmüller, Yvonne Tunnat, Monika Niehaus, Peter Schattschneider und Uwe Hermann (um nur die wichtigsten zu nennen) sind ebenso mit dabei wie die großartigen und höchst unterschiedlichen Bildkünstler Gerd Frey, Detlef Klewer, Jan Hoffmann, Uli Bendick, Mario Franke und Thomas Thiemeyer, von dem auch das Coverbild stammt.

Auf mehr als 370 Seiten zeigen uns viele der derzeit besten deutschsprachige Künstler*innen wie sie sich, laut Untertitel, „Die Welt in Jahrmillionen“ vorstellen. FERNE HORIZONTE – ENTFERNTE VERWANDTE ist eine Originalanthologie deren Texte zum Staunen und (Weiter-)Träumen anregen – und ein ganz heißer Anwärter auf den Titel „Die beste Anthologie des Jahres 2023“.

Horst Illmer

Hans Jürgen Kugler & René Moreau (Hrsg.)
FERNE HORIZONTE – ENTFERNTE VERWANDTE.
Die Welt in Jahrmillionen.
Illustriert von Gerd Frey, Detlef Klewer, Jan Hoffmann, Uli Bendick, Mario Franke, Michael Böhme, Oliver Engelhard, David Staege und Thomas Thiemeyer
Berlin, Hirnkost, 2023, 370 S.
ISBN 978-3-98857-012-3 / 32,00 Euro
Hardcover

Dieser Science-Fiction-Anthologie, die den Titel FERNE HORIZONTE – ENTFERNTE VERWANDTE trägt und im Hirnkost Verlag erschienen ist, kann man auf ein paar wenigen Zeilen eigentlich gar nicht gerecht werden.

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Vision und Verfall

von am 16. August 2023 Kommentare deaktiviert für Vision und Verfall

Hans Frey
VISION UND VERFALL.
Deutsche Science Fiction in der DDR. Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1990.
Berlin, Memoranda, 2023, 380 Seiten
ISBN 978-3-948616-82-3 / 26,90 Euro
Klappenbroschur

Wer glaubt, die Themen „DDR“ und „Science Fiction“ seien entweder nicht kompatibel oder bereits über Gebühr abgehandelt, befindet sich in beiden Fällen im Irrtum.

Beglaubigt wird dieser Satz durch das Erscheinen von Hans Freys viertem Band seiner fortlaufenden „Geschichte der deutschen Science Fiction“ im Frühsommer 2023, der den Titel VISION UND VERFALL – DEUTSCHE SCIENCE FICTION IN DER DDR trägt und den Zeitraum „Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1990“ umfasst.

Damit zeigt schon das Titelblatt einen ersten Unterschied im Herangehen: während in der bisherigen Literatur überwiegend von einem vierzig Jahre währenden Zeitraum für das Thema ausgegangen wird, nimmt Frey die Jahre vor der Staatsgründung der DDR sowie die Wende- und Beitrittszeit hinzu, was, mit einigen Unschärfen, dann doch fast fünfzig Jahre sind.

Außerdem verzichtet der Homo politicus Frey nicht darauf, neben den literarischen auch die gesellschaftlichen Aspekte in seine Betrachtungen einer vom Staat wenig geachteten und misstrauisch beäugten, von den Leser*innen aber heiß geliebten Genreliteratur aufzunehmen.

So finden sich auf den gut 400 Seiten von VISION UND VERFALL nicht nur kurze Beschreibungen der wichtigsten Werke der DDR-SF, sondern auch Biografien der (überwiegend männlichen) Autoren und Herausgeber, Zahlen und Daten zu den Verlagen, Blicke über den (ost-)deutschen Tellerrand hinaus, Hinweise auf die dortige Fan-Szene und ihre Publikationen, die Inaugenscheinnahme der nichtliterarischen Medien (Film, Fernsehen, Radio, Comic usw.) und am Ende die Aufzählung einer erstaunlichen Zahl an Ähnlichkeiten mit dem konkurrierenden Bruderstaat – ohne dabei jedoch die tatsächlich vorhandene Eigenständigkeit dieses utopisch-phantastischen „Laborversuchs“ zu übergehen.

Die „DDR“ und ihre „Science Fiction“ waren und sind ein spannendes Thema – und Hans Freys Buch ist ein überaus lesens- und empfehlenswerter Führer hin zu einem besseren Verständnis dieser Literatur.

Horst Illmer

Hans Frey
VISION UND VERFALL.
Deutsche Science Fiction in der DDR. Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1990.
Berlin, Memoranda, 2023, 380 Seiten
ISBN 978-3-948616-82-3 / 26,90 Euro
Klappenbroschur

Wer glaubt, die Themen „DDR“ und „Science Fiction“ seien entweder nicht kompatibel oder bereits über Gebühr abgehandelt, befindet sich in beiden Fällen im Irrtum.

Beglaubigt wird dieser Satz durch das Erscheinen von Hans Freys viertem Band seiner fortlaufenden „Geschichte der deutschen Science Fiction“ im Frühsommer 2023,

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Der Skandal

von am 9. August 2023 Kommentare deaktiviert für Der Skandal

T. S. Orgel
DER SKANDAL. Ökothriller.
München, Heyne, 2023, 444 Seiten
ISBN 978-3-453-32210-3 / 16,00 Euro
Klappenbroschur

Die Zahl der Menschen auf diesem Planeten steigt immer noch um mehr als 180.000 – täglich! Alle diese Menschen benötigen Nahrung, und mit herkömmlichen Mitteln ist es überaus schwierig, diese Mengen zu erzeugen. Als es der Firma Light Foods gelingt, auf umweltschonende und preiswerte Weise Nahrung im Labor zu erzeugen, scheint das nicht nur ein Lichtstreif am Hunger-Horizont zu sein, sondern auch eine fast unerschöpfliche Möglichkeit zum Geldverdienen. Doch bereits kurz nach der Markteinführung des In-vitro-Fleisches tauchen erste Gerüchte über gefährliche Nebenwirkungen auf. Als es einer Gruppe von Umweltaktivisten gelingt, an geheime Daten von Light Foods zu gelangen, geraten die Dinge außer Kontrolle: Peter, ein Mitglied der Aktivistengruppe wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, der Konzern gerät wegen diverser Internet-Attacken ins Schlingern, der Erfinder des Kunst-Fleisches und Chef von Light Food, Daniel Lichter (aka Dan Light), gerät ins Visier der Polizei – und als er sich mit Anna, Peters Schwester trifft, wird auf die beiden ein Mordanschlag verübt …

Dieses Szenario stammt nicht aus dem (geheimen) Drehbuch des nächsten James Bond- oder Mission Impossible-Blockbusters, sondern bildet das Rückgrat des neuesten Romans von T. S. Orgel, einem Biothriller mit dem knackigen Titel DER SKANDAL.

In ihrem bisher wohl ambitioniertesten Werk zeigen sich die Brüder Tom und Stephan Orgel als engagierte und überaus informierte Kritiker des nahrungsmitteltechnischen Raubtierkapitalismus. Zugleich packen sie ihre Rechercheergebnisse in eine überaus spannende und packende Handlung, geben ihren Protagonist*innen biografische Tiefe und psychologische Glaubwürdigkeit und vermeiden es dabei gekonnt, in die Falle des „wir-wissen-wie-alles-sofort-besser-wird“ zu tappen.

Spannende Lektüre auf internationalem Niveau.

Horst Illmer

T. S. Orgel
DER SKANDAL. Ökothriller.
München, Heyne, 2023, 444 Seiten
ISBN 978-3-453-32210-3 / 16,00 Euro
Klappenbroschur

Die Zahl der Menschen auf diesem Planeten steigt immer noch um mehr als 180.000 – täglich! Alle diese Menschen benötigen Nahrung, und mit herkömmlichen Mitteln ist es überaus schwierig, diese Mengen zu erzeugen. Als es der Firma Light Foods gelingt, auf umweltschonende und preiswerte Weise Nahrung im Labor zu erzeugen, scheint das nicht nur ein Lichtstreif am Hunger-Horizont zu sein,

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De Profundis

von am 31. Juli 2023 Kommentare deaktiviert für De Profundis

Michael Marrak
DE PROFUNDIS. Roman. Band 2.
Berlin, Memoranda, 2023, 376 S.
ISBN 978-3-948616-84-7 / 26,90 Euro

Erst mit dem Erscheinen des zweiten Teils, DE PROFUNDIS, zeigt sich, welch großer und umfangreicher Entwurf der neueste Marrak-Roman tatsächlich ist. Siebenhundert Seiten absolut konzentrierter Schrecken!

Was in LEX TALIONIS noch anfing wie ein Serienmörder-Thriller mit Spuk-Effekten wird mit jeder weiteren Seite ein immer mehr ins Übernatürliche gehender, immer schrecklichere Szenarien hervorbringender Horror-Roman. Allerdings geht es hier natürlich nicht mehr um klassische Gespenster, auch nicht um Zombies oder irgendwelche Ausgeburten der (christlichen) Hölle.

Michael Marrak zeigte ja bereits in einigen seiner frühen Werken eine große Affinität zum lovecraftschen Mythenentwurf eines dem Menschen feindlich gesinnten Universums. Und ohne das an dieser Stelle näher auszuführen (jedes Nacherzählen würde den Sog des Buches empfindlich stören) kann man sagen, dass er in DE PROFUNDIS aus diesen (und einer Reihe weiterer, persönlich erforschter und erlebter) Quellen einen Webrahmen gebastelt hat, auf dem er dann einen Erzählteppich webt, der eine ganz eigene, eben marraksche, Bildkraft und Sprachmacht vereinende, Geschichte hervorbringt.

Was er in LEX TALIONIS begonnen hat, führt Marrak in DE PROFUNDIS zu einem wirklich großen Finale. Und diesmal steht auf der letzten Seite dann auch „Ende“.

Horst Illmer

Michael Marrak
DE PROFUNDIS. Roman. Band 2.
Berlin, Memoranda, 2023, 376 S.
ISBN 978-3-948616-84-7 / 26,90 Euro

Erst mit dem Erscheinen des zweiten Teils, DE PROFUNDIS, zeigt sich, welch großer und umfangreicher Entwurf der neueste Marrak-Roman tatsächlich ist. Siebenhundert Seiten absolut konzentrierter Schrecken!

Was in LEX TALIONIS noch anfing wie ein Serienmörder-Thriller mit Spuk-Effekten wird mit jeder weiteren Seite ein immer mehr ins Übernatürliche gehender, immer schrecklichere Szenarien hervorbringender Horror-Roman. Allerdings geht es hier natürlich nicht mehr um klassische Gespenster,

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Die Gelehrtenrepublik

von am 10. Juli 2023 Kommentare deaktiviert für Die Gelehrtenrepublik

Arno Schmidt
DIE GELEHRTENREPUBLIK. Kurzroman aus den Roßbreiten.
Berlin & Bargfeld, Suhrkamp, 2023, 176 S.
Suhrkamp Taschenbuch st5333
ISBN 978-3-518-47333-7 / 16,- Euro

Nachdem ich zu Weihnachten 2022 die „Luxus“-Version dieses Buches als Geschenk für „Leute, die schon alles haben“ empfohlen habe, hat sich jetzt Suhrkamp erbarmt und den Text in einer sehr gut lesbaren (und viel preiswerteren) Ausgabe zugänglich gemacht. Deshalb soll das lustigste und wohl am einfachsten zugängliche Science-Fiction-Buch Schmidts hier ausdrücklich nochmals vorgestellt und angepriesen werden.

Arno Schmidts bereits 1957 geschriebener Kurzroman DIE GELEHRTENREPUBLIK spielt in einer glücklicherweise fiktiv gebliebenen Zukunft, nach einem Atomkrieg, der weite Teile der Welt unbewohnbar gemacht hat, und erzählt aus der Sicht des Journalisten Charles Henry Winer von dessen Weg zur und seinen Erfahrungen auf der IRAS – der „International Republic for Artists and Scientists“ –, einem riesigen, inselförmigen Kreuzfahrt-Schiff, dass die von Schmidt weitergesponnene politische Weltlage des Jahres 2008 im Kleinen spiegelt.

Nach dem verheerenden Krieg hat sich die überlebende Menschheit, unter der Führung der USA und Russlands, darauf geeinigt, ein „neutrales“ Refugium für Kunst und Wissenschaften zu errichten, um weitere kriegsbedingte Verluste von Kunstwerken und Wissen zu vermeiden. Diese „Gelehrtenrepublik“, ein gigantisches Schiff von mehr als fünf Kilometern Länge (eine „Risszeichnung“ des Autors ist im Buch enthalten), kreuzt in den windstillen Bereichen der Weltmeere und dient einer (von ihren jeweiligen Regierungen) ausgewählten internationalen Schar von Künstlern und Wissenschaftlern als Heimat. Winer wurde aus Gründen der Propaganda ausgewählt, die sonst für die Öffentlichkeit unzugängliche IRAS zu besuchen und quasi eine „Homestory“ darüber zu schreiben.

Winers Abenteuer beginnen schon während der Anreise, die offensichtlich sabotiert werden soll. Nur durch Zufall und die tätige Mithilfe von zu Zentauren mutierten Mischwesen überlebt er den Marsch durch eine von gefährlichen Mutanten bewohnten Landschaft inmitten der zweigeteilten USA. Glücklich auf dem Schiff angelangt, gerät Winer erneut zwischen die Fronten der Machtblöcke, die sich dort auf der Steuerbord- und Backbordseite gebildet haben. Er soll als Vermittler fungieren, erhält dadurch Zugang zu geheimen Bereichen der jeweiligen Schiffs-Hälften und erkennt schnell, dass hier nicht Kunst und Wissenschaft, sondern die Politiker und Geheimdienste das Sagen haben. Trotz seines aufopferungsvollen Einsatzes (auch in diversen Betten auf beiden Seiten) scheitert seine Mission.

Schmidts Schlussbild einer immer schneller um die eigene Achse kreiselnden Insel ist sowohl eine Reminiszenz an Jules Verne (dessen Roman DIE PROPELLERINSEL von 1895 für viele Details Pate stand) als auch ein resigniertes Eingeständnis seines Unglaubens an die „Erkenntnisfähigkeit“ oder den Willen zur Veränderung beim „Homo Politicus“.

DIE GELEHRTENREPUBLIK gehört auch 65 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung immer noch zu den kompaktesten, originellsten und humorvollsten Science-Fiction-Texten der deutschsprachigen Literatur. Ein Buch, dessen Lektüre die Augen öffnet, den Geist bereichert und das Zwerchfell vibrieren lässt.

Horst Illmer

Arno Schmidt
DIE GELEHRTENREPUBLIK. Kurzroman aus den Roßbreiten.
Berlin & Bargfeld, Suhrkamp, 2023, 176 S.
Suhrkamp Taschenbuch st5333
ISBN 978-3-518-47333-7 / 16,- Euro

Nachdem ich zu Weihnachten 2022 die „Luxus“-Version dieses Buches als Geschenk für „Leute, die schon alles haben“ empfohlen habe, hat sich jetzt Suhrkamp erbarmt und den Text in einer sehr gut lesbaren (und viel preiswerteren) Ausgabe zugänglich gemacht. Deshalb soll das lustigste und wohl am einfachsten zugängliche Science-Fiction-Buch Schmidts hier ausdrücklich nochmals vorgestellt und angepriesen werden.

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Die letzte Erzählerin

von am 5. Juli 2023 Kommentare deaktiviert für Die letzte Erzählerin

Donna Barba Higuera
DIE LETZTE ERZÄHLERIN.
Ü: Jennifer Michalski
(THE LAST CUENTISTA / 2021)
Hamburg, Dragonfly, 2023, 320 S.
ISBN 978-3-7488-0239-6 / 16,00 Euro
Hardcover

Immer wieder passiert es mir, dass ich ein Buch kaufe, dessen äußeres Erscheinungsbild für mich einfach unwiderstehlich ist – und sehr häufig steckt dann auch ein überaus lesenswerter Text in der schönen „Schale“. Gerade wieder geschehen bei: DIE LETZTE ERZÄHLERIN von Donna Barba Higuera.

Auf den ersten Blick wirkt es eher wie ein Märchenbuch oder ein All-Age-Fantasy-Titel; der Einband liebevoll illustriert in blau und orange, dreiseitiger Farbschnitt und Lesebändchen in passendem Orangeton, ein Vorsatzpapier zum Dahinschmelzen und, alles in allem, ein haptisches Meisterwerk. Und dann steckt da eine knallharte Science-Fiction-Story drin, ein geradezu klassischer Generationen-Raumschiff-Roman (und wie sollte gerade ich da nicht begeistert sein!).

Ein Komet rast auf die Erde zu, da trifft es sich prima, dass ein privater Konzern gerade drei interstellare Luxus-Raumschiffe in Betrieb stellen will. Die Regierung übernimmt, wählt aus, wer auf die Reise gehen soll, und schickt eine buntgemischte Gesellschaft los, die nach 380 Jahren Flug die menschliche Zivilisation auf einem fernen Planeten erneuern soll. Doch schon beim Start explodiert eines der Schiffe – alles ändert sich, alle Pläne sind hinfällig. Die Reisenden (unter ihnen die Ich-Erzählerin Petra, deren besondere Begabung dereinst noch eine letzte Chance eröffnen wird) müssen sich neu orientieren…

Higuera wuchs in der zentralkalifornischen Wüste auf, las viel und spitzte die Ohren, wann immer irgendwo Geschichten erzählt wurden. Sie ist verheiratet, hat Kinder und lebt mit ihrer Familie inzwischen im Nordwesten der USA. Sie schreibt Kinder- und Jugendbücher und erhielt 2022 für THE LAST CUENTISTA die prestigeträchtige Newbery Medal sowie Lobpreisungen aus allen Richtungen. Die deutsche Ausgabe DIE LETZTE ERZÄHLERIN erschien in der Übersetzung von Jennifer Michalski bei Dragonfly – und es steckt tatsächlich ein märchenhafter All-Age-Science-Fiction-Roman in diesem wunderschönen Buch.

Horst Illmer

Donna Barba Higuera
DIE LETZTE ERZÄHLERIN.
Ü: Jennifer Michalski
(THE LAST CUENTISTA / 2021)
Hamburg, Dragonfly, 2023, 320 S.
ISBN 978-3-7488-0239-6 / 16,00 Euro
Hardcover

Immer wieder passiert es mir, dass ich ein Buch kaufe, dessen äußeres Erscheinungsbild für mich einfach unwiderstehlich ist – und sehr häufig steckt dann auch ein überaus lesenswerter Text in der schönen „Schale“. Gerade wieder geschehen bei: DIE LETZTE ERZÄHLERIN von Donna Barba Higuera.

Auf den ersten Blick wirkt es eher wie ein Märchenbuch oder ein All-Age-Fantasy-Titel;

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Straße nach überallhin

von am 12. Juni 2023 2 Kommentare

Roger Zelazny
STRASSE NACH ÜBERALLHIN. Roman.
Ü: Jakob Schmidt, Nachwort: Uwe Anton
(ROADMARKS / 1979)
München, Piper, 2023, 252 S.
ISBN 978-3-492-70636-0 / 22,00 Euro
Hardcover

Der Ausstoß an Science Fiction bei Piper ist, verglichen mit dem weit umfangreicheren Fantasy-Programm, sehr überschaubar. Allerdings: wenn dann mal ein Titel erscheint, ist es zumeist ein echter Klassiker oder auch ein richtiger Kracher (manchmal auch beides zugleich) wie im Fall von Roger Zelaznys Roman STRASSE NACH ÜBERALLHIN. Der US-Amerikaner Roger Zelazny (1937–1995) gehörte eine Zeitlang zu den profiliertesten und experimentierfreudigsten Autoren der New Wave, gleichermaßen versiert in Fantasy und Science Fiction, in Stories, Novellen und Romanen, und oftmals auch sehr am jeweiligen Zeitgeist orientiert. Erst langsam kristallisieren sich seine Hauptwerke heraus, Texte, die auch heute noch hervorragend zu lesen sind, interessante Ideen präsentieren und stilistisch immer weit über dem Genre-Durchschnitt liegen. Neben den AMBER-Romanen (die kürzlich bei Klett Cotta neu aufgelegt wurden) gehört eindeutig auch ROADMARKS (so der Originaltitel der 1979 erstmals erschienenen STRASSE NACH ÜBERALLHIN) in die Gattung „zeitloser Klassiker“.

Der Protagonist Red Dorakeen gehört zu den besonders begabten Menschen, die in der Lage sind, die „Straße“ zu benutzen. Dabei handelt es sich um einen Weg durch alle Zeiten und in Alternativwelten, die über die „Ausfahrten“ erreichbar sind (das amerikanische Highway-System ist eindeutig das Vorbild dieses Plots) und der sich – aufgrund von Veränderungen historischer Ereignisse durch die Besucher – in stetiger Veränderung befindet. Dorakeen ist zwar ein erfahrener Benutzer der Straße, hat sich aber auch Feinde gemacht und ist deshalb auf der Flucht vor einer ganzen Schar Auftragsmörder. Neben seiner eigenen Gewitztheit stehen ihm im Verlauf der Handlung (die aus einem linearen und einem „zusammengewürfelten“ Strang zusammengesetzt ist) allerdings auch einige Gefährten zur Seite – darunter einer der bemerkenswertesten Sidekicks der Literatur: eine mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Buchausgabe von LES FLEURS DU MAL (Charles Baudelaires skandalträchtiger Gedichtband DIE BLUMEN DES BÖSEN)!

Die von Jakob Schmidt neu aus dem amerikanischen Englisch übersetzte und von Uwe Anton mit einem informativen Nachwort versehene Neuausgabe der STRASSE NACH ÜBERALLHIN erweist sich als unbedingt lesenswerte Zeitreise-Science-Fiction – und niemand sollte sich wundern, wenn daraus in absehbarer Zeit eine echt geile TV-Serie wird.

Horst Illmer

Roger Zelazny
STRASSE NACH ÜBERALLHIN. Roman.
Ü: Jakob Schmidt, Nachwort: Uwe Anton
(ROADMARKS / 1979)
München, Piper, 2023, 252 S.
ISBN 978-3-492-70636-0 / 22,00 Euro
Hardcover

Der Ausstoß an Science Fiction bei Piper ist, verglichen mit dem weit umfangreicheren Fantasy-Programm, sehr überschaubar. Allerdings: wenn dann mal ein Titel erscheint, ist es zumeist ein echter Klassiker oder auch ein richtiger Kracher (manchmal auch beides zugleich) wie im Fall von Roger Zelaznys Roman STRASSE NACH ÜBERALLHIN.

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Meist beginnt es mit Ayn Rand

von am 5. Juni 2023 Kommentare deaktiviert für Meist beginnt es mit Ayn Rand

Jerome Tuccille
MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND. Libertäre Geschichte(n).
Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe.
Ü: Cornelia Kähler
(It Usually Begins With Ayn Rand / 1971 & 2012)
Grevenbroich, Lichtschlag, 2016, 308 S.
ISBN 978-3-939562-53-5 / 18.90 Euro

Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Titel dieses Buches ist ebenso falsch wie genial. Er dient offensichtlich einzig dem Zweck, Bücherwürmer wie mich anzulocken und auf den Haken zu spießen, von dem wir dann nicht mehr loskommen.

Es handelt sich bei MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND um ein Sachbuch, in dem der US-amerikanische Autor und libertäre Politiker Jerome Tuccille von seinem Leben als Zoon politikon berichtet – und der Anteil, den Ayn Rand daran hat, ist vergleichsweise bescheiden und überschaubar, obwohl sie (wie ein Stehaufteufelchen) an den unmöglichsten Stellen immer wieder kurz auftaucht.

Wer also nur etwas über die Erfinderin des Objektivismus und Autorin höchst einflussreicher Bücher erfahren will, kann an dieser Stelle aussteigen.

Für alle anderen lohnt es sich vielleicht, noch ein paar Zeilen weiterzulesen, denn Jerome Tuccille gehört zu einer sehr seltenen Spezies – er ist ein hochintelligent und unterhaltsam schreibender Mensch, der seinen Lebensweg mit viel Selbstironie betrachtet und dabei nicht nur Einblicke in das Innere der amerikanischen Politik gibt, sondern meinungsstarke Urteile über eine ganze Reihe von (linken wie rechten) Anhängern und Vertretern dieses Systems vertritt, in dem er über viele Jahrzehnte selbst mitgemischt hat.

Der 1937 geborene Tuccille kam als Student über Romane wie ATLAS SHRUGGED und THE FOUNTAINHEAD in Ayn Rands Bannkreis, lernte die Philosophin selbst kennen, gehörte kurz zu ihrem inneren Zirkel und verließ diesen dann wieder, abgestoßen von Rands absolutistischen Ansprüchen und ihrer Humorlosigkeit. Obwohl zeitlebens ein Libertärer, versuchte Tuccille immer wieder, die extremen Ränder der amerikanischen Rechten und Linken miteinander ins Gespräch zu bringen und über alles Trennende hinweg Gemeinsamkeiten zu finden. Dieses Ausgleichende, Vermittelnde, und dabei immer neugierig Suchende, brachte ihn dazu, sich 1974 als libertärer Kandidat für den New Yorker Gouverneursposten aufstellen zu lassen, was gründlich schief ging. Danach verdiente er sein Geld als Autor von Ratgebern, Sachbüchern und Romanen.

Neben dem hier vorliegenden autofiktionalen Bestseller MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND schrieb Tuccille eine Reihe von sehr erfolgreichen Biografien, unter anderem über die Texanische Hunt-Dynastie, den Notenbank-Chef Alan Greenspan (dessen Anhänglichkeit an Ayn Rands Ideale bereits im großartigen Titel ALAN SHRUGGED offenbart werden), den Zeitungsmogul Rupert Murdoch, über Ernest Hemingway und Martha Gelhorn, sowie, bereits 1985, über Donald Trump. Bis zu seinem Tod 2017 veröffentlichte Tuccille mehr als dreißig Titel, größtenteils Bestseller in den Vereinigten Staaten, von denen es jedoch nur die Biografien von Trump, Hunt und Murdoch schafften, ins Deutsche übersetzt zu werden.

Und nun also endlich MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND, dessen Lektüre mir, neben einigen erschütternden Einblicken in die Psyche US-amerikanischer Präsidenten, vor allem eine durchgehend vergnügliche Zeit mit einem wunderbaren Plauderer bescherte.
Ein Sachbuch mit sehr hohem Unterhaltungswert – ein „guter Fang“ für einen Bücherwurm.

Horst Illmer

Jerome Tuccille
MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND. Libertäre Geschichte(n).
Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe.
Ü: Cornelia Kähler
(It Usually Begins With Ayn Rand / 1971 & 2012)
Grevenbroich, Lichtschlag, 2016, 308 S.
ISBN 978-3-939562-53-5 / 18.90 Euro

Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Titel dieses Buches ist ebenso falsch wie genial. Er dient offensichtlich einzig dem Zweck, Bücherwürmer wie mich anzulocken und auf den Haken zu spießen, von dem wir dann nicht mehr loskommen.

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Der schlauste Mann der Welt

von am 29. Mai 2023 1 Kommentar

Andreas Eschbach
DER SCHLAUSTE MANN DER WELT. Roman
Köln, Lübbe, 2023, 222 S.
ISBN 978-3-7857-2849-9
Hardcover / 22,00 Euro

Jens Leunich, der „Held“ im neuen Buch von Andreas Eschbach, ist mit Sicherheit nicht „der Schlauste Mann der Welt“, aber in der Kategorie „Größtmöglicher Glückspilz“ gebührt ihm schon einer der Spitzenplätze. Am Ende allerdings …

Doch wir wollen ja nicht vorgreifen, gerade die Romane Eschbachs vertragen es oftmals gar nicht, wenn zu viel vom Inhalt bekannt ist. Darum hier nur eine oberflächliche Inhaltsangabe: Einem jungen Mann widerfahren in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einige bemerkenswerte Dinge, die ihn letztlich in die Lage versetzen, sein weiteres Leben ohne „Arbeit“ oder ähnliche Tätigkeiten zu verbringen, was er ausführlich und eloquent zu begründen weiß. Dabei keimt im Hintergrund allerdings immer mehr der Verdacht, dass es sich um einen sehr „unzuverlässigen Erzähler“ handelt, der in DER SCHLAUSTE MANN DER WELT das Sagen hat …

Für mich kam Eschbachs Roman zufällig genau in eine Phase, in der ich mich gerade wieder einmal mit Ayn Rand und ihrer Vision eines „egoistischen Kapitalismus“ (literarisch geformt in ihrem Opus Magnum ATLAS SHRUGGED) beschäftigt hatte. Kurz vor Eschbach hatte ich die Lektüre von Jerome Tuccilles Erinnerungsbuch MEIST BEGINNT ES MIT AYN RAND beendet – und da passte DER SCHLAUSTE MANN DER WELT wie die Faust aufs berühmte Auge.

(Erlaubt sei mir hier eine kleine Abschweifung – Harry Rowohlt möge es mir verzeihen – zu einigen anderen Büchern Eschbachs: Geld und der Umgang damit gehören zu den wiederkehrenden Themen des Autors, zuletzt in FREIHEITSGELD, wo das „bedingungslose Grundeinkommen“ unter die Lupe genommen wird, zuvor, 2004, in der Anthologie EINE TRILLION EURO und – natürlich – in EINE BILLION DOLLAR aus dem Jahr 2001. Und ich scheue mich nicht, dieses Werk als meine „Nemesis“ im Eschbach-Kanon zu bezeichnen, hat mir der gute Andreas doch durch ein unfassbar schlechtes Ende den Genuss der vorherigen 900 Seiten ordentlich verdorben. Was uns zurückbringt zum vorliegenden Buch.)

DER SCHLAUSTE MANN DER WELT entwickelte sich vor diesem Hintergrund für mich zum philosophischen Bindeglied zwischen Ayn Rands Ideen und den, wie immer bei Eschbach, herausragend recherchierten Ausführungen über den weltweiten Finanzkapitalismus und seine Schwachpunkte. Ich habe keine Ahnung, ob Eschbach Ayn Rand überhaupt kennt, bzw. ihre Bücher gelesen hat, aber Jens Leunich agiert durchgängig wie ein bewusst angelegter Gegenpart zu Rands sprichwörtlich gewordenem John Galt.
(Mehr dazu würde viele Seiten füllen, deshalb breche ich hier ab. Lest doch einfach selbst.)
Und das Ende hat Andreas Eschbach diesmal auch so hinbekommen, dass ich nix dran auszusetzen habe.

Horst Illmer

Andreas Eschbach
DER SCHLAUSTE MANN DER WELT. Roman
Köln, Lübbe, 2023, 222 S.
ISBN 978-3-7857-2849-9
Hardcover / 22,00 Euro

Jens Leunich, der „Held“ im neuen Buch von Andreas Eschbach, ist mit Sicherheit nicht „der Schlauste Mann der Welt“, aber in der Kategorie „Größtmöglicher Glückspilz“ gebührt ihm schon einer der Spitzenplätze. Am Ende allerdings …

Doch wir wollen ja nicht vorgreifen, gerade die Romane Eschbachs vertragen es oftmals gar nicht, wenn zu viel vom Inhalt bekannt ist.

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Babel

von am 22. Mai 2023 Kommentare deaktiviert für Babel

R. F. Kuang
BABEL. Roman.
Ü: Heide Franck und Alexandra Jordan
(BABEL: OR THE NECESSITY OF VIOLENCE. AN ARCANE HISTORY OF THE OXFORD TRANSLATORS' REVOLUTION / 2022)
Köln, Eichborn, 2023, 733 S. / 26,00 Euro
ISBN 978-3-8479-0143-3
Hardcover mit Lesebändchen

Wenn sich englische, amerikanische und deutsche Literaturkritiker*innen durchgängig einig sind und den Urban-Fantasy-Roman einer noch vergleichsweise neuen Autorin über den grünen Klee loben, dann schaue ich gerne einmal genauer hin, denn solche Urteilsüberschneidungen sind tatsächlich viel seltener als man denkt.

Geschehen ist dies jetzt wieder bei BABEL von Rebecca F. Kuang, einer chinesisch-amerikanischen Geisteswissenschaftlerin, die seit 2018 schreibt und inzwischen fünf Romane veröffentlicht hat. Bereits für ihre THE POPPY WAR-Trilogie (auf Deutsch bei Blanvalet unter dem Serientitel IM ZEICHEN DER MOHNBLUME erschienen) erhielt sie viel Lob und war für fast alle Fantastik-Preise nominiert. Während Kuang dort aber über ein fiktives China mit Fantasy-Einschlag schreibt, steht in BABEL das englische Städtchen Oxford um 1830 im Mittelpunkt des 730-Seiten-Schmökers. Allerdings gibt es einige Unterschiede zwischen dem uns bekannten Geschichtsverlauf und der Alternativfassung bei Kuang. So beherrscht das Britische Empire die Welt nicht nur mit überlegener Strategie und besseren Waffen, sondern auch, weil in Oxford das „Königliche Institut für Übersetzungen“ existiert. Es hat seinen Sitz in einem turmartigen Gebäude, das allgemein als „Babel“ bekannt ist – und man lehrt dort nicht nur Sprachen, sondern auch Silbermagie!

In diesem Setting sollen nun vier neue Schüler*innen in die Geheimnisse von Babel eingeweiht werden, dort das Übersetzen und Zaubern lernen und mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen die Macht des Empire vergrößern und seinen Reichtum mehren – allerdings sind Robin, Ramy, Letty und Victoire außergewöhnlich begabte junge Menschen und ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung andere als die ihrer Lehrer und Förderer. Das führt zu Konflikten, deren Tragweite das ganze Weltreich erschüttern …

Das monumentale Werk von Kuang war sicherlich (auch wegen der vielen darin verwendeten Sprachen und der zitierten Originalwerke) eine Herausforderung für die Übersetzerinnen Heide Franck und Alexandra Jordan. Zudem hat Kuang nicht nur in den USA und China gelebt, sondern auch einige Zeit in Oxford studiert, was die Anforderungen nochmals erhöht haben dürfte. Trotzdem ist BABEL wunderbar flüssig zu lesen. Als kleiner Wermutstropfen bleibt einzig, dass der Originaltitel des Buches auf ein einziges Wort verkürzt wurde, lautete er doch in aller epischen Anschaulichkeit BABEL: OR THE NECESSITY OF VIOLENCE. AN ARCANE HISTORY OF THE OXFORD TRANSLATORS' REVOLUTION.

Horst Illmer

R. F. Kuang
BABEL. Roman.
Ü: Heide Franck und Alexandra Jordan
(BABEL: OR THE NECESSITY OF VIOLENCE. AN ARCANE HISTORY OF THE OXFORD TRANSLATORS' REVOLUTION / 2022)
Köln, Eichborn, 2023, 733 S. / 26,00 Euro
ISBN 978-3-8479-0143-3
Hardcover mit Lesebändchen

Wenn sich englische, amerikanische und deutsche Literaturkritiker*innen durchgängig einig sind und den Urban-Fantasy-Roman einer noch vergleichsweise neuen Autorin über den grünen Klee loben, dann schaue ich gerne einmal genauer hin, denn solche Urteilsüberschneidungen sind tatsächlich viel seltener als man denkt.

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Gameshow – Der Preis der Gier

von am 15. Mai 2023 Kommentare deaktiviert für Gameshow – Der Preis der Gier

Franzi Kopka
GAMESHOW – DER PREIS DER GIER. Roman.
Frankfurt, Sauerländer, 2023, 440 S.
ISBN 978-3-7373-5947-4 / 18,00 Euro
Hardcover

Romane, in denen die Mitspieler einer weltweit ausgestrahlten TV-Show um ihr Leben kämpfen müssen, sind inzwischen ja schon fast ein eigenes Genre im Bereich der Science Fiction. Angefangen beim legendären MILLIONENSPIEL aus dem Jahr 1970 über den RUNNING MAN-Blockbuster bis hin zu den TRIBUTEN VON PANEM (2012–2015).

Und wie es bei solchen Dingen halt so ist: das Publikum will immer mehr. Am Leid der Anderen sieht sich einfach niemand satt.

Nach dem mit dem Kurd Laßwitz Preis prämierten Roman NEONGRAU von Aiki Mira aus dem letzten Jahr ist zum Jahresbeginn 2023 bei Sauerländer nun der Debütroman GAMESHOW – DER PREIS DER GIER der 1990 geborenen Rheinländerin Franzi Kopka erschienen. Einhundert Jahre in der Zukunft scheint sich das Leben der meisten Bewohner von New London nur noch um die „Gameshow“ zu drehen: entweder schaut man zu und fiebert mit (allerdings mehr um die eigenen Wetteinsätze als um das Überleben der Teilnehmer) – oder man versucht, es selbst in die Show zu schaffen. Denn ein Sieg dort gilt gleichzeitig als Ticket zum Aufstieg in die Welt der Reichen und Mächtigen. Auf über 400 Seiten zieht Kopka ihre Leser*innen immer tiefer in die Welt von Cass und Jax, die einen Pakt geschlossen haben, um die nächste „Gameshow“ als Siegerpärchen zu gewinnen. Allerdings: die Regeln werden von anderen gemacht – und für die Veranstalter zählt allein die Quote …

Da der Roman mit einem brutalen cliffhanger endet, erfreut es uns, dass die Fortsetzung GAMESHOW – DAS VERSPRECHEN VON GLÜCK bereits für den Herbst 2023 angekündigt ist.

Horst Illmer

Franzi Kopka
GAMESHOW – DER PREIS DER GIER. Roman.
Frankfurt, Sauerländer, 2023, 440 S.
ISBN 978-3-7373-5947-4 / 18,00 Euro
Hardcover

Romane, in denen die Mitspieler einer weltweit ausgestrahlten TV-Show um ihr Leben kämpfen müssen, sind inzwischen ja schon fast ein eigenes Genre im Bereich der Science Fiction. Angefangen beim legendären MILLIONENSPIEL aus dem Jahr 1970 über den RUNNING MAN-Blockbuster bis hin zu den TRIBUTEN VON PANEM (2012–2015).

Und wie es bei solchen Dingen halt so ist: das Publikum will immer mehr.

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