Ich, Hannibal
von Matita Illmer am 13. August 2025 noch kein Kommentar
- Judith & Christian Vogt
ICH, HANNIBAL – Rom wird vor ihr erzittern.
München, Piper, 2024, 432 Seiten
ISBN 978-3-492-70658-2 / 17,00 Euro
Diese Neuerzählung der Hannibal-Geschichte ist ein Parallelwelt-Roman. Die Ausgangsfrage, die Judith und Christian Vogt hier stellen, ist: Was wäre, wenn sich die Perspektive der Erzählung von männlich/römisch/weiß zu weiblich/nicht-männlich/punisch-karthagisch/nicht-weiß verschiebt und in dieser Welt die mythischen Gestalten unserer Welt lebendige, handelnde Wesen wären.
Was wäre, wenn eine sehr junge Witwe mit drei Kindern, eine in die Jahre gekommene Monsterjägerin, eine Feldherrin und ein griechischer Sklave den Kern eines Romans bildeten?
Judith und Christian Vogt haben sich in vielen Eckpunkten und Details an die Forschungsergebnisse der modernen Geschichtsschreibung gehalten, dazu fügten sie halbgöttliche und mythische Protagonist*innen, wie die Medusa oder die römische Wölfin ein. Hannibal, Hasdrubal und Mago sind vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht bekannt. Himilke, auch Himilce oder Imilce, je nachdem ob es sich um eine iberische, lateinische oder griechische Quelle handelt, ist in verschiedenen historischen Dokumenten als Hannibals Ehefrau zu finden. Die Figur des Historikers Sosylos ist verbürgt, aber von seinen Aufzeichnungen über den „zweiten Punischen Krieg“, wie das Römische Imperium ihn nannte, sind nur einige Passagen erhalten geblieben.
In der Parallelwelt führt Himilke, Hannibals Mörderin und Witwe, das karthagische Heer unter seinem Namen und mit Wissen ihrer Offiziere, Unterführer und Ratgeber auf dem Feldzug gegen das Römische Imperium an, das sich immer weiter ausdehnen möchte.
Sie hatte in all den Jahren ihrer Ehe an der Ausbildung durch Sosylos und den strategischen Überlegungen und Planungen ihres Mannes teilgenommen.
Durch sie und ihr Geschick gelingt die Überquerung der Alpen und ihr Heer erreicht Rom.
Auch in dieser von und für Männern geformten Parallelwelt müssen sich Frauen alles erarbeitet oder erkämpfen. Wie die numidische Bestienjägerin Tamenzut, die Monster unterwirft und versklavt, und so die militärischen Erfolge der Karthagischen Truppen ermöglicht.
Oder Fulvia, die 17-jährige Witwe eines Patriziers, die halsstarrig an ihrem Beschluss, für ihre Stiefkinder zu sorgen, festhält, obwohl oder weil diese von dem reichen und machthungrigen Publius Cornelius Scipio dem Jüngeren um ihr Erbe betrogen wurden. Sie ergreift jeden Strohhalm und arbeitet unter großen persönlichen Gefahren, um ein besseres Leben zu erreichen.
Das zentrale Thema dieses Romans ist Krieg und damit, wie immer, einhergehend Unterdrückung, Gewalt, Vergewaltigung und Mord und was das mit den Beteiligten anrichtet, nicht nur mit den Opfern, sondern auch mit den Täter*innen. Ich bin etwas überrascht, dass der Piper Verlag auf Trigger-Warnungen oder Content Notes verzichtet.
Die Zahl der Getöteten, Verstümmelten und Verletzten ist hoch, sehr hoch, aber die Darstellung von Gewalt und Grausamkeit geschieht nicht um ihrer selbst Willen, sie dient immer der Erzählung, reißt Fassaden von Protagonist*innen ein, zeigt Abgründe und Motivationen. Es geht um Machtsysteme und um Methoden, wie Menschen Macht erhalten oder erreichen.
Hier wird nicht platt davon gefaselt, dass Frauen, Sklaven, nicht-weiße und queere Personen die besseren Menschen sind. Monster und Menschen werden nicht nur durch das geprägt und verändert, was sie erleiden, sondern auch von dem, was sie tun und anderen antun.
ICH, HANNIBAL ist ein kluges und vielschichtiges Buch. Besonders schätze ich, dass es ein „nach dem Krieg“ gibt. Eine der Kernaussagen des Buches lautet: „Macht aufzubrechen ist, als würde man etwas, das wüst gefallen ist, wieder zu einem Garten pflegen.“ (Seite 407).
So viel Blut, Eiter, Tot, Vergewaltigung, Leid habe ich schon länger nicht mehr in einem Roman gefunden. Aber auch nicht so viel Liebe, Verehrung, Mut und Freundlichkeit.
Durch die abgestuften Charakterisierungen von glaubwürdigen Handelnden ist dieser Roman eine lohnenswerte Lektüre. Zudem ist es ein Roman mit einem Hoffnungsschimmer: dass herrschaftsloses Leben denkbar und daher vielleicht auch realisierbar ist. Hopepunk!
Für mich ist ICH, HANNIBAL einer der besten, erhellendsten und spannendsten Science-Fiction-Romane des Jahres 2024.
Matita Illmer
- Judith & Christian Vogt
ICH, HANNIBAL – Rom wird vor ihr erzittern.
München, Piper, 2024, 432 Seiten
ISBN 978-3-492-70658-2 / 17,00 Euro
Diese Neuerzählung der Hannibal-Geschichte ist ein Parallelwelt-Roman. Die Ausgangsfrage, die Judith und Christian Vogt hier stellen, ist: Was wäre, wenn sich die Perspektive der Erzählung von männlich/römisch/weiß zu weiblich/nicht-männlich/punisch-karthagisch/nicht-weiß verschiebt und in dieser Welt die mythischen Gestalten unserer Welt lebendige, handelnde Wesen wären.
Was wäre, wenn eine sehr junge Witwe mit drei Kindern,
- Kategorie: Bücher , deutschsprachige Autoren , Fantasy
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